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Justizskandal: Brasiliens Superhelden verblassen

Wenn die
brasilianische Politik eine Telenovela wäre, eine der süchtig machenden
Seifenopern des Landes, würde man seit dem Wochenbeginn sagen: Sie hat ein
dramaturgisches Problem. Es gibt keine Heldenfiguren mehr, oder besser: Die
letzten großen Helden des Landes erscheinen seit Montagnachmittag arg lädiert. 

Seit
2014 hatten der unerbittliche Richter Sérgio Moro und ein Team von
Staatsanwälten aus der südlichen Provinzstadt Curitiba einen spektakulären Korruptionsfall
nach dem nächsten aufgeklärt
, und sie wurden dafür vom Volk gefeiert. Sie galten als die Trockenleger
im korrupten Sumpf der brasilianischen Politik, sie ließen Konzernchefs und
Spitzenpolitiker im Blitzlichtgewitter abführen, und im April 2018 steckten sie
sogar den Ex-Präsidenten Inácio “Lula” da Silva für knapp neun Jahre in Haft.

Doch seit
Montag stehen Moro und seine Mitstreiter dumm da. Könnte es sein, dass
sie sich selbst die ganze Zeit über korrupt verhalten haben? Müssen ihre
Verfahren neu aufgelegt werden, kommt sogar Lula da Silva wieder auf freien Fuß,
muss die ganze Präsidentschaftswahl von 2018 infrage gestellt werden?

Private Handychats des Richters

Die
investigative Nachrichtenseite The Intercept
hat Auszüge aus privaten Handychats des Richters Moro und der Strafverfolger veröffentlicht.
Aus diesen Gesprächsfetzen ergibt sich das Bild eines Verhaltens, das etliche brasilianische
Rechtsexperten inzwischen als einen groben Verstoß gegen die Rechtsordnung werten.
Moro – der als Richter eigentlich unabhängig handeln und urteilen müsste – scheint in den Chats die verschiedenen juristischen Verfahren nach taktischen und PR-Gesichtspunkten
gemeinsam mit den Staatsanwälten zu koordinieren. Er steckt ihnen sogar
Informationen zu.

Weitere Chats legen nahe, dass Richter und Staatsanwälte gemeinsam
politisch agierten. Etwa als sie die damalige Präsidentin Dilma Rousseff blamierten, indem sie Telefonmitschnitte illegalerweise an die Medien weitergaben.
Und später, als sie im Jahr 2018 das Verfahren gegen Lula da Silva außergewöhnlich
rasch abwickelten, bevor er erneut eine Präsidentschaftswahl gewinnen konnte,
und ihm dann im Wahlkampf jedes Recht auf Interviews absprachen.

The Intercept
gibt an, dass die Chats seinen Journalisten aus einer anonymen Quelle
zugespielt worden seien. Es handele sich um Texte, Tonaufnahmen und Videos, die
Moro und die Staatsanwälte über die in Russland entwickelte Nachrichten-App
Telegram verschickten.
Telegram ist in Brasilien sehr beliebt und gilt als besonders sicher. Die
Staatsanwaltschaft spricht davon, dass Telefone gehackt oder geklont worden
seien. An den Berichten wirkte auch der in Rio de Janeiro lebende
US-amerikanische Journalist Glenn Greenwald mit, ein Mitgründer von The
Intercept
, der durch seine Arbeit mit den Enthüllungen des NSA-Whistleblowers
Edward Snowden ab 2013 weltberühmt geworden war.

Dünne Beweise gegen Lula

Der auf den
ersten Blick pikanteste Teil der Enthüllungen betrifft den Prozess gegen Lula
da Silva. Das Verfahren warf von Beginn an viele Fragen auf. Lula war bei seiner Verhaftung Präsidentschaftskandidat und führte sogar
die Umfragen an. Der Richterspruch machte den Weg frei für seinen Widersacher,
den rechtsextremen Politiker Jair Bolsonaro, der heute als Präsident regiert. 

Die Vorwürfe gegen Lula waren allerdings dünn. Es ging um eine Wohnung an einem drittklassigen
Strand, die Lula angeblich als Bestechungsgeschenk erhalten haben sollte. Doch
er war dort nie eingezogen und es gab auch keine schriftlichen Unterlagen. Gleich
nach seiner Wahl zum Präsidenten beförderte Bolsonaro Moro zum Justizminister in Brasília.
Waren Lulas Haft und Bolsonaros Wahlsieg am Ende das Resultat eines Komplotts?

Die
Intercept-Gesprächsmitschnitte liefern dazu jetzt ein paar Extrainformationen.
Demnach hatte zwischenzeitlich sogar der Chefankläger Deltan Dallagnol kalte
Füße wegen der dünnen Beweislage gegen Lula. In einem der Mitschnitte scheint
er mit dem Richter zu besprechen, wie man das in Gesprächen mit der
Öffentlichkeit am besten vertuscht.

Die
Enthüllungen sind frisches Futter für alle, die Lulas Verhaftung schon seit
jeher für ein politisches Ränkespiel halten. Aber auch die als unparteiisch
geltende anwaltliche Aufsichtsbehörde OAB hat empfohlen, dass Moro und
Dallagnol ihre Ämter ruhen lassen. Der Verfassungsrichter Marco Aurelio sprach
von “anstößigem” Verhalten, das Verfassungsgericht will in den kommenden Tagen
oder Wochen eine mögliche Neuauflage der Verfahren gegen Lula und andere
Beschuldigte erwägen. Von einer Neuauflage der Präsidentschaftswahl allerdings hat bisher
noch niemand von Einfluss gesprochen.

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