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Drogenpolitik: Abhängige sind Patienten, keine Kriminellen

Diese Reportage ist Teil des Schwerpunkts zu Drogen im Alltag. Dazu hat ZEIT ONLINE exklusiv Ergebnisse des Global Drug Survey veröffentlicht, der weltweit größten Drogenumfrage, an der rund 35.000 Leserinnen und Leser teilgenommen haben.

“Wachsen” heißt auf Portugiesisch “Crescer” – so nennt sich die Einrichtung im Südosten Lissabons, die sich mit Streetwork und Vermittlungshilfe darum bemüht, süchtige Menschen zu reintegrieren. Psychologin Marta Correia und Mentor Rui Coelho gehören zu einem 40-köpfigen Team, das hier Drogenabhängige betreut. Jeden Morgen nehmen sie Termine wahr, vermitteln Menschen Therapieplätze und beantworten soziale Fragen. An den Nachmittagen ziehen sie neongelbe Westen über, steigen in einen weißen Van und fahren durch die Problemgegenden der portugiesischen Hauptstadt. Immer zur selben Zeit, immer dieselben Wege entlang. Die Süchtigen sollen sich auf den Kleintransporter mit den sauberen Nadeln und den freundlichen Streetworkern verlassen können.

In ihren Rucksäcken tragen Marta und Rui Plastiktüten, die sie auf ihren Routen verteilen. Die knallgrünen Kits, die sich leicht aufreißen lassen, enthalten zwei Spritzen mit integrierten Nadeln, zwei Pöttchen aus Aluminium, zwei Filter, zwei Ampullen mit destilliertem Wasser: alles zum Kochen von Heroin. Außerdem zwei Desinfektionstücher und ein Kondom. In zwei kleinen extra Beutelchen befindet sich Säure, die verhindern soll, dass die Abhängigen den Stoff im Saft einer Zitrone auflösen, um ihn zu erhitzen – eine oft genutzte Methode, bei der sich die Menschen durch das Fruchtfleisch Infektionen holen oder ihre Blutgefäße verstopfen können.

Drogenpolitik:

Die Streetworkerinnen verteilen auf den Straßen Lissabons Kits mit Spritzen.
© Gonçalo Fonseca

Marta erzählt, dass die meisten betroffenen Frauen und Männer dank der Streetworker auf die Organisation aufmerksam werden. Wer clean werden möchte oder medizinische Fragen hat, kommt anschließend in die Einrichtung. Das Team hört zu, wenn die Abhängigen von ihrem Leben und ihrer Sucht erzählen und darüber sprechen, ob sie ein Netz aus Freunden, Familie oder Kollegen haben, das gegebenenfalls Unterstützung leisten könnte. In der Regel haben sie das nicht. 

In den Achtziger- und Neunzigerjahren galt Lissabon als Drogensupermarkt Europas, überall in der Stadt lagen gebrauchte Heroinspritzen. 350 Todesfälle nach Überdosen zählte Portugal damals jährlich und hatte mit mehr als 1.000 HIV-Neuinfektionen im Jahr eine der höchsten Raten an Menschen, die das Aidsvirus in sich trugen. Bis sich die Regierung um den damaligen Premierminister António Guterres – heute Generalsekretär der Vereinten Nationen – entschied, die Drogenpolitik radikal zu erneuern: Ab 2001 wurden Nutzerinnen und Nutzer nicht mehr inhaftiert. Mit den eingesparten Ressourcen finanzierte der Staat therapeutische Maßnahmen und Einrichtungen wie Crescer. Erlaubt ist der Besitz und Konsum in Portugal auch heute nicht. Wer mit Drogen erwischt wird, kommt in staatliche Betreuung, zahlt in seltenen Fällen eine geringe Geldstrafe oder bekommt Gemeindedienst auferlegt. Aber ins Gefängnis muss hier niemand mehr, weil er Drogen nimmt. Stattdessen gibt es sogenannte Abrate-Kommissionen. Dort werden die Betroffenen von einer Anwältin und zwei Vertretern aus dem Gesundheitsministerium angehört, die das Suchtrisiko einordnen.

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