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Junge Unternehmer: Agenten der Jugend

“Als ich 14 war, habe ich im Internet die Bilder eines Anschlags auf eine Schule im
pakistanischen Peschawar gesehen, bei dem 130 Kinder getötet wurden. Ich konnte nicht
fassen, dass es in den Nachrichten kaum eine Rolle spielte.”

Ein halbes Jahr später gründet Shaina Zafar den Verein Code for a Cause, in dem junge Programmiererinnen sich für die Entwicklungshilfe der UN engagieren können.

“Mit 16 habe ich eine Beziehung geführt, in der mir sexuelle Gewalt angetan wurde. Einmal
war es so schlimm, dass ich mit einer Rückenverletzung mehrere Tage ins Krankenhaus
musste.”

Wenige Monate danach ruft Nadya Okamoto die Organisation Period ins Leben, die sich dafür einsetzt, unterprivilegierten Frauen Zugang zu Hygieneprodukten zu verschaffen.

“Als Zweitklässler bin ich von Amerika aus mit meinen Eltern nach Bangladesch gereist,
ihrer Heimat. Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt sind wir an einem Bettler
vorbeigefahren, der keine Augen hatte. Ich bin in Tränen ausgebrochen.”

Mit 14 gründet Ziad Ahmed die Organisation Redefy, die sich weltweit für Inklusion und gegen Diskriminierung an Schulen einsetzt.

Heute arbeiten diese drei Jugendlichen zusammen in einer Agentur in New York: JÜV, so der Firmenname, ist eine Abkürzung des englischen Wortes
juvenile,
also jugendlich, wobei der Umlaut aus dem U eine Art Smiley macht. JÜV, vor drei Jahren gegründet, berät Firmen und soziale Einrichtungen dabei, wie sie Jugendliche am besten erreichen können, genauer: die Generation Z, die nach 1996 Geborenen. Das Besondere an dieser Beratungsagentur ist, dass die Mitarbeiter alle selbst in dem entsprechenden Alter sind, also zwischen 14 und 22. “Wir sind keine Teenager-Experten, wir sind Teenager”, wirbt JÜV.

Die Agentur hat ein Führungsteam aus zwölf Mitarbeitern und Dutzende Berater in den USA. Die Firma kann auf ein eigenes, “The Vine” genanntes Marktforschungsnetz zugreifen, das aus 1000 Jugendlichen weltweit besteht, die befragt werden, wenn zum Beispiel ein App-Entwickler testen will, ob ein neues Logo bei Teenagern gut ankommt. Die Agentur hat derzeit 70 Kunden, 30 davon sind börsennotierte Unternehmen, hauptsächlich aus der Kosmetik- und der Lebensmittelindustrie. JÜV betreibt Marktforschung für ihre Kunden, findet für sie die passenden Markenbotschafter, konzipiert Werbekampagnen und hilft bei der Produktentwicklung. Die Konzerne zahlen den Teenagern für kleinere Aufträge Zehntausende, für größere Hunderttausende Dollar.

Warum es der Wirtschaft so wichtig ist, Jugendliche zu erreichen, liegt auf der Hand: In den USA macht die Generation Z ein Viertel der Bevölkerung aus, ihre Kaufkraft wird auf 44 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt. Auch die Politik interessiert sich für diese Generation, die sich in vielen Punkten deutlich von ihren Vorgängern abhebt: Weltweit machen Jugendliche als politische Aktivisten Druck, in der Klimaschutzbewegung “Fridays for Future” etwa oder bei den Protesten gegen Waffengewalt in den USA.

Wie andere Marketingexperten auch, wollen die Jugendlichen von JÜV Geld verdienen, aber wenn man ein paar Tage mit ihnen in ihrem Hauptquartier am Times Square in Manhattan verbringt, merkt man, wie idealistisch sie zugleich sind. Kann das zusammengehen, Idealismus und Profit?

Schreibtische dicht an dicht, eine Couch mit einem Kissen in Form einer Packung Pommes, auf einem Beistelltisch steht ein gerahmtes Zitat der Dichterin Emily Dickinson:
Dwell in possibility
(“Wohne in der Möglichkeit”). Die Laptops sind voller Aufkleber, auf denen Sprüche stehen wie
“Talk to teenagers”,
“I’m voting”
und
“We are the ones we’ve been waiting for”,
wir sind die, auf die wir gewartet haben.

Ein Aktivist, der große Konzerne berät: Ziad Ahmed war 17, als er JÜV gründete.
© Philip Montgomery

Es gibt keine Kleiderordnung, jeder trägt, was er will. Und so sieht es bei JÜV ein wenig so aus wie im Aufenthaltsraum eines Hostels: sehr junge Menschen in Kapuzenpullis mit Kordeln, schlabberigen Jeans, Turnschuhen. Es ist still, weil alle konzentriert an ihren Laptops arbeiten, aber trotzdem ist ständig jemand in Bewegung, geht mit seinem Smartphone auf und ab, holt sich ein Glas Wasser, nimmt sich einen Keks oder verabschiedet sich kurz, um sich aus einem Schnellrestaurant etwas zu essen zu holen. Es ist offensichtlich, dass unter den Mitarbeitern eine große Vertrautheit herrscht, mal wird kurz ein Rücken massiert, mal macht sich jemand darüber lustig, dass Mitgründer Ziad Ahmed, mittlerweile ist er 20, sich gerade einen Bart stehen lässt oder wieder eins seiner bunten, kurzärmeligen Hemden trägt. Einige wohnen sogar zusammen in einer WG. Dann kommt eine E-Mail rein, und plötzlich diskutieren alle wild durcheinander. Eine Filmproduktionsfirma hat sich gemeldet, die die Rechte an der JÜV-Geschichte kaufen möchte: Das Team soll von Schauspielern ins amerikanische Fernsehen gebracht werden.

Das finden alle ganz lustig, aber nach fünf Minuten wenden sie sich wieder ihren Laptops oder Smartphones zu. “Viele halten unsere Generation einfach für faul, apathisch und unmotiviert”, sagt Shaina Zafar, 19, Vorstandsmitglied bei JÜV und im Team für ihre herzliche, zupackende Art bekannt. Sie sieht mit ihrer Bluse noch am ehesten nach Business-Welt aus. “Sie glauben, dass wir unser Leben vertrödeln, weil sie grundsätzlich nicht verstehen, was wir die ganze Zeit mit unseren Smartphones machen.” Doch gerade dadurch, sagt sie, “dass wir uns zum Beispiel täglich lustige Memes schicken, in Gruppen mit Hunderttausenden anderen Jugendlichen, schaffen wir auch die Infrastruktur für politische Bewegungen: Die Verbindungen sind dann ja schon da.”

Während die Millennials, also die zwischen den frühen Achtzigerjahren und den späten Neunzigerjahren Geborenen, den 11. September und auch die Finanzkrise als prägend empfanden, erzählen die JÜV-Mitarbeiter von ganz verschiedenen Schlüsselmomenten: von Amokläufen an Schulen, von Polizeigewalt gegen schwarze Bürger oder auch von der Senatsanhörung des US-Richters Brett Kavanaugh. Beim Zuhören wird deutlich, dass die Nachrichtenlage der Welt für sie nicht aus fernen Ereignissen besteht, die man, wie frühere Generationen, einmal morgens und einmal abends für einige Minuten in sein Leben lässt, sondern dass das sogenannte Weltgeschehen und ihr Privatleben nie voneinander getrennt gewesen sind. Wer sich als Schüler für die prekäre Situation der mexikanischen Einwanderer an der Südgrenze der USA interessiert oder für die Versäumnisse beim Klimaschutz in der Autoindustrie, findet rund um die Uhr auf Twitter, den Nachrichtenkanälen auf Snapchat Discover oder auf Instagram Informationen, die die eigene Wut steigern können – und damit auch das Bedürfnis zu handeln.

“Die
Washington Post
hat den Slogan ausgerufen: ‘Demokratie stirbt im Dunkeln’. Für mich haben die sozialen Medien das Potenzial, das notwendige Licht zu sein”, sagt Shaina Zafar.

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