/Sylt-Aufkleber: Hält ewig

Sylt-Aufkleber: Hält ewig

Von Rantum sind es acht Kilometer bis nach Westerland. Mit dem Fahrrad braucht man für diese Strecke eine knappe halbe Stunde. Die Hörnumer Straße windet sich durch struppige Dünenlandschaft, dahinter liegt links das tosende Meer, rechts das Watt. Auf dem Fahrradweg hat man gefühlt immer Gegenwind, aber dafür kann man von hier aus gut beobachten, was auf der Straße so an einem vorbeirast. An diesem knallblauen Dienstagmorgen im Mai sind das: ein weißer Geländewagen aus Saarlouis mit goldenem Aufkleber. Eine silberne Mercedes-S-Klasse aus Berlin mit schwarzem Aufkleber. Ein blauer Smart aus Rendsburg mit korallenrotem Aufkleber. Ein weißer Nissan aus Böblingen mit schwarzem, eine blaue S-Klasse aus dem Heidekreis mit silbernem, eine silberne Ente aus Kassel mit schwarzem Aufkleber. Innerhalb von 20 Minuten sieht man mehr als ein Dutzend von ihnen: Autos aus ganz Deutschland, die sich die Silhouette der Insel Sylt auf die Heckklappe geklebt haben.

Warum wollen so viele Menschen zeigen, dass Sylt zu ihnen gehört und sie zu Sylt?

Die Zeit der Auto-Sticker ist eigentlich vorbei. 1978 brachte Axel Springer den “Ein Herz für Kinder”-Aufkleber unters Volk, parallel verbreiteten sich “Atomkraft? Nein danke!” und das weit weniger erfolgreiche Gegenmodell “Ich bin Energiesparer” im bundesdeutschen Straßenverkehr. Einer bekundete mit “Bis dass der TÜV uns scheidet” Selbstironie, der andere mit dem schlichten “D” das Gegenteil davon. Irgendwann verschwanden die Sticker wieder. Vereinzelt sieht man heute noch die Wappen von Fußballvereinen. Die Silhouette der nördlichsten Insel Deutschlands aber klebt weiter auf deutschen Autos, als wäre sie dort tätowiert: ein schmaler, lang gezogener Fleck, am beliebtesten ist die mittelgroße Version in Schwarz, 8 Zentimeter lang, 90 Cent, kein Schriftzug. Es gibt durchaus Nachahmer des Aufklebers: sämtliche Nord- und Ostseeinseln, dazu bayerische Seen, die Müritz, der Nürburgring und das Fichtelgebirge haben versucht, ihre Silhouetten zum Label zu machen – aber nur den Umriss von Sylt kennt fast jeder. Wie hat die Insel das geschafft?

An einem Stoppschild am Ortseingang von Westerland fährt eine alte Dame das Fenster ihres silbernen Mercedes mit Pinneberger Kennzeichen und schwarzem Sylt-Umriss herunter. “Ja, bitte?” – “Warum haben Sie einen Sylt-Aufkleber auf Ihrem Auto?” – “Weil ich zweimal im Jahr Sylt-Urlauberin bin! Ich will damit sagen, dass ich Sylt liebe!”

Erfunden wurde der berühmte Sylt-Aufkleber in den Sechzigerjahren von Werner Schwarz, einem Schaufensterdekorateur aus Westerland. Schwarz entwickelte damals eine eigene Stanzmaschine, mit der er die Silhouette der Insel aus Papier mit Klebefolie schnitt. Peter Schnittgard, damals Werbe- und Veranstaltungsleiter in Westerland, erinnert sich, dass Schwarz zu ihm in die Kurverwaltung kam und ihm den Aufkleber als Werbemittel für die Insel anbot. “Nach einem kurzen Gewöhnungsprozess”, wie Schnittgard sagt, verbreitete sich der Sticker schnell auf der Insel und darüber hinaus. Einwohner versahen ihr Auto damit, wenn sie die Insel verließen, Urlauber, wenn sie sich in sie verliebten. Kaufen konnte man ihn in Buchhandlungen und an Tankstellen. Erklären, wofür die Silhouette stand, musste man schnell nicht mehr. Sylt war längst eine Marke, mit der man sich gerne schmückte.

Aber Sehnsuchtsorte gibt es viele. Sylt muss irgendetwas haben, das andere Orte nicht haben, etwas, das BMW- und Smart-Fahrer gleichermaßen dazu bewegt, ihre Zuneigung zu dieser Insel für jeden Verkehrsteilnehmer sichtbar zu machen.

Silke von Bremen, Hobby-Historikerin, Gästeführerin und Autorin von
Gebrauchsanweisung für Sylt,
hat keinen Sylt-Aufkleber auf dem Auto. Aber sie kann erzählen, wie die Insel zum Synonym für den deutschen Traumurlaub wurde. Mit ihrem eleganten grauen Bob und der grazilen Figur sieht sie aus wie eine Sylter Großgrundbesitzerin in dritter Generation, tatsächlich kommt sie aus dem Alten Land bei Hamburg, seit 30 Jahren lebt sie auf der Insel.

Bereits 1871, erzählt Silke von Bremen, genoss Sylt einen speziellen Status. Die Insel bildete nun den nordwestlichsten Zipfel des neu gegründeten Deutschen Reichs, und das verlieh ihr eine besondere Bedeutung. Die Anreise war mühevoll, den Eisenbahndamm, über den man seit 1927 bequem per Zug anreisen kann, gab es noch nicht, und somit konnte sich nur eine hauchdünne Oberschicht die Sommerfrische im eleganten Seebad Westerland leisten. Industrielle und Politiker waren hier unter sich. Die Kinder wurden mitgeschleppt und im besten Fall gleich verheiratet. Intellektuelle, Literaten und Maler zog die Insel ebenso an: Stefan Zweig, Thomas Mann, Fritz Overbeck und Erich Heckel entdeckten Sylt für sich. Viele, die im restlichen Deutschland ihre Erzählungen lasen oder ihre Bilder betrachteten, hatten selbst noch nie das Meer gesehen.

Und das Sylter Meer ist etwas Besonderes. An der Westseite der Insel schlagen wuchtige Wellen an den weißen Strand. Steht man auf einer der sich stolz erhebenden Dünen inmitten wogender Gräser und schaut über die Brandung zum Horizont, hat man das Gefühl, am Ende der Welt angekommen zu sein. Die Weite ist endlos, der brutale Wind zerzaust einem das Haar, man kann gar nicht anders, als sehr tief Luft zu holen, wenn man inmitten dieser irren Natur steht.

“Sylt hat verdammt viel Glück gehabt”, sagt Silke von Bremen. “Föhr ist von Watt umgeben, hat also kein tosendes Meer. Amrum hat einen sehr breiten Strand. Rügen ist sehr groß und hat dadurch weniger Inselcharakter als das schmale Sylt. Und die Nordsee hat ohnehin eine ganz andere Dynamik als die Ostsee.” Aber dass Sylt zu dem strahlenden Markenprodukt werden konnte, das es bis heute ist, das sei, sagt Silke von Bremen, vor allem den besonderen Menschen zu verdanken, die hier seit eh und je herfuhren und mit ihrer Strahlkraft Geschichten von der Insel verbreiteten. Schon in den Zwanzigerjahren war die Insel offener als das restliche Deutschland. Aus Berlin, wo es damals bereits Schwulen- und Lesbenbars gab, schwappten mit den Gästen freiheitliche Ideen nach Sylt. Und während Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in Spießigkeit versank, konnte man auf Sylt sexuelle Freizügigkeit genießen. “Dass der Krupp-Sohn Arndt von Bohlen und Halbach schwul war, kümmerte auf der Insel niemanden”, sagt Silke von Bremen. Dann wurde Deutschland geteilt, die großen Zeitungsverlage saßen nun in Hamburg, und von dort ist es nach Sylt bekanntlich nicht weit. Die Insel war bald voller urlaubender Journalisten und Politiker, die Reichen und Einflussreichen waren bestens miteinander vernetzt, und dann kam mit Gunter Sachs auch noch “dieser strahlend schöne Mann”, wie Silke von Bremen jetzt mit schwärmerisch leuchtenden Augen sagt, auf die Insel. Ungefähr zeitgleich erfand Werner Schwarz mit seiner Stanzmaschine den Sylt-Aufkleber. Der Mythos Sylt war geboren – und damit auch das Klischee, dass der Sylt-Reisende zu einem erlesenen Kreis reicher und schöner Menschen gehört und damit gerne hausieren geht.

Wenn man heute über die Insel radelt, hat man nicht mehr das Gefühl, hier einer Avantgarde beim Networking zuzuschauen. Die meisten Leute sehen entweder so aus, als wollten sie nach altem Geld aussehen, oder als sei es ihnen total egal, wie sie aussehen. Durch die Fußgängerzone von Westerland laufen viele beige Steppjacken und noch mehr bunte Funktionsjacken. Es gibt einen Sansibar Store und eine McDonald’s-Filiale, Bijou Brigitte und Gosch. Gegenüber der Kneipe Alt Berlin spielt ein Mann
Something Stupid
auf dem Akkordeon. Die Fotos in der Glasvitrine des Hotel Miramar, das über dem Strand von Westerland thront, wurden wahrscheinlich das letzte Mal 1984 ausgetauscht. Die älteren Herrschaften sitzen in ihren bunten Jacken in vom Meer abgewandten Strandkörben und starren etwas ratlos auf die Promenade.

Alle Sylt-Besucher eint die Sehnsucht nach Sylt. Es gibt Leute, die sich den Sylt-Umriss als Tattoo stechen lassen. Und es gibt, wie der Kfz-Mechaniker beim Autoservice Dassler in Tinnum erzählt, sogar Urlauber, die extra in seiner Werkstatt ihr Auto warten lassen, um einen Sylter Stempel im Serviceheft zu haben.

Es gibt also Menschen, die so stolz darauf sind, nach Sylt zu fahren, dass sie das kommunizieren müssen. Aber was macht sie hier so stolz? Auf dem Parkplatz des Supermarktes Famila in Westerland trägt an diesem Dienstagmorgen geschätzt ein Drittel der Autos einen Aufkleber. Nicht nur der Inselumriss, auch die beiden gekreuzten Säbel, das Logo des Sehen-und-gesehen-werden-Restaurants Sansibar, sind vertreten. Aus einem blauen Audi A4 mit Wolfenbütteler Kennzeichen und schwarzem Umriss-Aufkleber steigt ein Mann mittleren Alters, Igelhaare, graue Kapuzenjacke. Er und seine Frau fahren seit 17 Jahren nach Sylt, erzählt er, allerdings nicht im Sommer, da sei es zu teuer. “Dafür kommen wir im Frühling und im Herbst hierher und können dann sagen: Wir waren zweimal hier!” Was er an Sylt so liebe? “Eigentlich alles. Ich kann hier komplett abschalten. Und klar, der Aufkleber zeigt: Wir waren dabei.” Bald bekomme er sein neues Auto – einen neuen Sylt-Sticker habe er dafür schon zu Hause bereitliegen.

Ein hagerer Herr, weißer Bart, türkisfarbener Fleecepulli, ist gerade dabei, seinen Einkauf im Kofferraum eines schwarzen Kombis mit rheinisch-bergischem Kennzeichen zu verladen, auch er hat einen Umriss-Aufkleber auf der Heckklappe. “Ich fahre jetzt seit 32 Jahren nach Sylt”, erzählt er, “meine Frau noch länger.” Auf Sylt habe er seine Ruhe, vor allem in Morsum, wo er stundenlang mit seinem Hund rumlaufen könne, ohne dass ihm ein Mensch in die Quere komme. Nur schöne Erinnerungen habe er an die Insel. “Mein Sohn ist hier auch getauft worden. Ich möchte mit dem Sticker kommunizieren, dass ich hier glücklich bin. Ich hab noch vier Jahre bis zur Rente, vielleicht zieh ich dann ganz hier hoch.”

Unterhält man sich mit verschiedenen Haltern von Sylt-Aufkleber-Autos, stellt man fest, dass sie zwar irgendwie alle Zugehörigkeit demonstrieren, sich dabei aber auch voneinander abgrenzen wollen. Der Sylter mit Baumwollschal und Sonnenbrille sagt, er habe den Umriss auf seinem Auto, damit man sehe, dass er auf der Insel zuhause sei, die Sansibar-Säbel würde er sich aber nie aufkleben. Eine Frau, die einen kleinen Inselumriss auf dem Schutzblech ihres Fahrrads kleben hat, sagt, aufs Auto würde der bei ihr niemals kommen, “das finde ich total affig!”. Sie fahre ausschließlich für das Hochseeklima nach Sylt. Knapp 60.000 Sticker werden laut Voss Sylt, dem Vertrieb des Originalaufklebers, pro Jahr verkauft. Ihre Käufer verbindet die Liebe zur Insel. Die Gründe für diese Zuneigung sind aber äußerst vielschichtig. “Es gibt auf Sylt 4000 Leihräder, aber auch Leute, die mit dem Porsche kommen”, sagt Peter Schnittgard, der einstige Werbe- und Veranstaltungsleiter von Westerland. “Jeder kann hier nach seiner Fasson selig werden. Du kannst mit den Schafen blöken oder an der Nordsee mit dem Wasser singen. Du kannst in der Spielbank sitzen oder auf den Deich gehen und dich mit dem Wind unterhalten. Du kannst bei Aldi einkaufen oder dir im Uhrenladen eine Uhr für 5000 Euro holen. Du kannst deinen Rhabarber beim Bauern kaufen oder bei Jörg Müller im Gourmetrestaurant essen.”

Auf Sylt, so scheint es, können sehr viele Menschen mit sehr unterschiedlichen Neigungen sehr glücklich werden. Wenn sie von ihrer Beziehung zur Insel erzählen, klingt es, als sprächen sie von einer langen, innigen Ehe. Und vielleicht ist der Sylt-Aufkleber damit auch nichts anderes als ein Ehering. Also der Beweis dafür, dass man es geschafft hat, etwas zu finden, das man wirklich liebt.


Hinter der Geschichte:

An dem Hamburger Gymnasium, das ZEITmagazin-Redakteurin Claire
Beermann, 25, besuchte, gehörte es zum guten Ton, die letzte Sommerferienwoche auf Sylt zu
verbringen. Beermann fuhr nie mit und war stolz auf ihren Widerstand – bis sie für diese
Recherche am Strand von Rantum stand und einsah, dass sie etwas verpasst hat.

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