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Artur Becker: Mützenmonologe

Im Kommunismus, so
erklärt Arthur es seinem 89 Jahre alten Onkel Stanislaw, müsse man zwangsläufig
zum Antikommunisten werden. Der Kapitalismus dagegen erfordere es, sich in
einen Marxisten zu verwandeln. Und überhaupt, fährt Arthur, erst einmal in Rage
geraten, fort, hätten die USA, das Land, in dem Stanislaw seit Jahrzehnten lebt,
sich zu einem faschistischen Staat entwickelt, und von einem ehemaligen
Stalinisten lasse er, Arthur, sich ohnehin nicht über Demokratie belehren.
Sicher, da waren ein paar Gläser Whiskey im Spiel, und Arthur schämt sich
später, doch der todkranke Onkel Stanislaw schweigt eisern bis zur Abreise
seines Neffen. Der Intellekt des Onkels, rekapituliert Arthur, war noch immer
wach, “nur dass er im 20. Jahrhundert feststeckte wie ein Holzsplitter in einer
Ferse”. Eine Diagnose, die möglicherweise sogar zutreffend sein mag, die aber
im gleichen Maß für den Neffen selbst gültig ist. Das 20. Jahrhundert hat alle Figuren dieses Romans nach wie vor im schmerzhaften Griff.

Drang nach Osten ist
der mittlerweile neunte Roman des 1968 als Artur Bekier im masurischen
Bartoszyce, dem ehemaligen Bartenstein, geborenen Schriftstellers Artur Becker.
Becker ist ein noch immer weit unter Wert gehandelter Autor; es gibt kaum
einen, der so vielschichtig und teilweise auch gewagt das deutsch-polnische
Verhältnis seit 1945 thematisiert und zugleich in einer so mitreißenden Sprache
Anekdoten, Geschichten, Erinnerungen, Gegenwartsbeobachtungen und
Geschichtsreflexion zu einem literarisch gelungenen Romanwerk zusammenfügen
kann.

In Drang nach Osten spielt Becker ein autobiografisches Verwirrspiel,
denn die äußeren Lebensdaten seines Erzählers sind deckungsgleich mit denen des
Autors: Mitte der Achtzigerjahre reist er zu einer Tante in die Bundesrepublik
aus und kehrt nicht zurück nach Polen, während die Eltern in Masuren bleiben.
Zu verwechseln sind der Roman-Arthur und sein Erfinder dennoch nicht,
verschafft Becker sich in Drang nach Osten doch einen Cameo-Auftritt: Der
Historiker und Sachbuchautor Arthur urteilt, “der Masure und Pole Becker
mythologisiere die polnische wie auch die deutsche Geschichte”. Der Witz daran:
Die romanhafte Überhöhung ist wiederum ästhetisches Programm des Buchs selbst.

Gibt es einen Gott?

Das klingt weitaus
komplizierter, als es sich liest. Es ist eine der großen Leistungen Beckers,
seinen Stoff jederzeit attraktiv zu halten, Spannungsbögen aufzubauen, Szenen
zu schließen und trotzdem stets anschlussfähig zu gestalten. Drang nach Osten
ist ein theoretisch fundiertes, klug konzipiertes, vor allem aber spannend zu
lesendes Buch, das von seiner Sprache vorangetrieben wird und das kapitelweise
zwischen zwei Zeitebenen hin- und herwechselt: Zum einen die Gegenwart, in der
der Schriftsteller versucht, die Abnutzungserscheinungen einer Existenz
zwischen einer ermüdenden Dozentenstelle an der Universität Bremen, seiner
polnischen Ex-Frau Anna und seiner ebenfalls polnischen Geliebten Malwina so
gering wie möglich zu halten. Zum anderen rekonstruiert Arthur die Geschichte
seiner Großeltern im Jahr 1945.

Stanislaw, der stalinistische Onkel, hatte
Arthur gestanden, dass er Arthurs Großvater Ryszard einst verraten und ins
Gefängnis geschickt hatte. Naturgemäß sind die historischen Passagen die
intensiveren und zupackenderen des Buchs. In ihnen werden die großen
moralischen Konflikte ausgetragen: Gibt es einen Gott? Woher kommt das Böse?
Wie macht der Mensch sich schuldig? Und vor allem: Wer hat in der von Becker
geschilderten Konstellation das Recht, sich als Opfer zu fühlen?

Der Ort, an dem die
Figuren unmittelbar nach Kriegsende zusammenfinden, ist das zehn Kilometer
südlich von Bartoszyce gelegene Schloss Galiny, das nun unter kommunistischer
Verwaltung steht: Irmgard, eine junge Deutsche, hat ihre Familie verloren und
darf keinesfalls Deutsch sprechen, wenn sie überleben will. Ihrer nimmt sich
Jan an, ein undurchsichtiger junger Mann, der ein Geheimnis mit sich trägt.
Ryszard und Renata wiederum, Arthurs Großeltern, sind als Zwangsarbeiter nach
Deutschland verbracht worden und haben sich nun dafür entschieden, sich in
Ostpreußen anzusiedeln. Und dann ist da noch Stanislaw, der junge Soldat,
Repräsentant der neuen, repressiv vorgehenden Macht. Kommunisten jagen
Antikommunisten. Polen verfolgen und denunzieren Deutsche. Alle zusammen jagen
untergetauchte Nazis. Durch die Wälder streifen Partisanenbanden. Und noch
einmal die Frage: Wer ist Opfer? Die vertriebenen Deutschen? Ja, auch.
Gleichzeitig sind sie Täter. Die von den Deutschen angegriffenen Polen? Wiederum: auch. Die aus den Konzentrationslagern befreiten Juden? Ohnehin.

Das kollektive Gewissen in Person

Arthur, der in
seinem Privatleben etwas antriebslose Historiker, mag kein sonderlich
einnehmender Mensch zu sein, aber als Erzähler hat er einen unbestreitbaren
Vorteil: Er urteilt nicht über seine Figuren. Er bleibt in jeder Hinsicht
ambivalent, auch in seinen eigenen Gefühlen: Als bekennender Marxist vermisst
er in alter polnisch-katholischer Prägung Jesus. Und als er nach dem Tod seiner
Schwester zu den Eltern nach Polen reist, bemerkt er, dass die Sehnsucht, die
ihn hin und wieder ergreift, an der Realität abprallt und einem beklemmenden
Gefühl Platz macht.

Ein Mann mit Baskenmütze
streift durch den Roman und durch die Jahrzehnte, ohne zu altern. Er taucht auf
und wieder ab. Er setzt sich aufs Sofa und hält Monologe über die Verfehlungen
jedes Einzelnen. Die Baskenmütze, wie der Mann nur genannt wird, ist das
personalisierte Kollektivgewissen, das immer dann, wenn Menschen sich schuldig
zu machen drohen, mit Mahnungen zur Stelle ist. Drang nach Osten ist kein
Roman, der von moralischem Rigorismus getragen ist. Beckers Schreiben
verurteilt nicht; es zielt in der Betonung von Widersprüchen auf Versöhnung.

Artur Becker: Drang
nach Osten. Roman, Verlag
weissbooks.w, Frankfurt am Main 2019, 396 S., 24,- €

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