/Olle Nyman: “Astrid wäre wütend und traurig”

Olle Nyman: “Astrid wäre wütend und traurig”

DIE ZEIT:
Herr Nyman, Ihre Großmutter Astrid Lindgren erzählt in ihren Büchern von Orten wie Bullerbü
und Lönneberga, die weltweit zum Synonym für ein idyllisches und kinderfreundliches
Landleben geworden sind. Was fällt Ihnen ein, wenn Sie diese Namen hören?

Olle Nyman:
Natürlich denke ich zuerst an meine Großmutter und habe sofort ganz viele Bilder im Kopf.
Wie bei vielen Menschen sind es die Bilder aus den Filmen und Fernsehserien. Aber zugleich
sind es Bilder aus meiner Kindheit, Fotos aus unserem Familienalbum. Astrid erzählt in
Bullerbü
und auch in den
Michel-Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit
und der ihres Vaters. Deshalb sind diese literarischen Orte für mich zugleich Teil meiner
echten Familiengeschichte. Sie sind mir ganz nah, auch wenn sie in eine andere Zeit
gehören.

ZEIT:
Diese Welt, die Ihnen sehr viel bedeutet, wird in Schweden gerade von rechten Politikern
vereinnahmt. Was genau ist passiert?

Nyman:
In Vimmerby, der Heimatstadt meiner Großmutter, hat kürzlich der Vorsitzende der Partei
“Alternativ för Sverige” eine Rede gehalten, in der er sagte, er würde Michel aus Lönneberga
jederzeit einem Flüchtlingskind aus Syrien vorziehen und dass er Bullerbü zurückhaben wolle.
In meinen Augen ist diese Partei rassistisch und radikal. Ich war an dem Tag zufällig in
Vimmerby und hörte die Rede. Natürlich war ich entrüstet, wollte dem Ganzen aber nicht noch
mehr Aufmerksamkeit schenken. Es hörten auch nur eine Handvoll Menschen zu. Als ich dann am
nächsten Tag in der Zeitung über den Auftritt las, wollte ich doch nicht länger schweigen:
Ich schrieb einen offenen Brief an den Parteivorsitzenden und forderte ihn auf, das Werk
Astrid Lindgrens nicht für seine Propaganda zu benutzen.

ZEIT:
Warum haben Sie sich dagegen gewehrt? Anders gefragt: Was haben Kinderbücher mit Politik zu
tun?

Nyman:
Astrid schrieb nie, um eine politische Botschaft zu verbreiten. Sie wollte sich und ihre
Leser unterhalten. Aber trotzdem war sie ein politischer Mensch mit einer klaren Haltung.
Und die könnte nicht weiter entfernt sein von dem, was diese Menschen verbreiten. Ich
möchte, dass jeder das weiß. Meine Oma setzte sich immer für die Rechte
aller
Kinder ein, egal woher sie kamen. Es ist absolut unfair, wenn sie oder ihr Werk mit
Fremdenhass und Ausgrenzung in Verbindung gebracht wird.

ZEIT:
Was für Reaktionen haben Sie auf Ihren Brief erhalten?

Nyman:
Er hat sich rasend schnell im Land verbreitet, andere Zeitungen und das Fernsehen haben es
aufgegriffen, mein Brief wurde über die sozialen Medien zigfach geteilt. Bei mir kam
ausschließlich großer Dank an, dass ich so klar Stellung bezogen habe. Aber ich bin mir
sicher, dass einige hier im Land nicht begeistert waren.

ZEIT:
Bei der Europawahl wurden die rechtspopulistischen Schwedendemokraten mit gut 15 Prozent
drittstärkste Partei. Was, glauben Sie, hätte Ihre Großmutter zu diesem Ergebnis gesagt?

Nyman:
Niemand kann wissen, was genau Astrid heute sagen würde. Aber wir als ihre Angehörigen, die
sie gut kannten, sind sicher, sie wäre wütend und traurig über die Entwicklungen in Europa.
Meine Großmutter war Humanistin und Demokratin aus tiefstem Herzen. Sie verurteilte jede
Diskriminierung von Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihres Glaubens oder
ihres Geschlechts.

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