/Einsamkeit: Menschen, die auf Gewässer starren

Einsamkeit: Menschen, die auf Gewässer starren

Es gibt die sehr seltsame Angewohnheit, insbesondere der öffentlichen Fernsehsender, Künstler zu porträtieren, indem sie verträumt aufs Wasser blicken. Ich wage zu behaupten, dass es hierzulande nicht einen Film gibt, in dem man den Protagonisten nicht gebeten hat, grundlos auf irgendein Gewässer zu starren. Kölner Autorinnen starren grundlos auf den Rhein, Berliner Maler laufen, muss halt so, an der Spree entlang, in Kiel steht jemand sogar ab und zu am Meer. Schnitt, Interview, und dann wieder: irgendein Gewässer. Was da mit der ganzen Kraft einer zerkauten Metapher zu beweisen versucht wird, ist immer das Gleiche: die Einsamkeit der Künstler, die Inspiration durch die fest monogame Zweierbeziehung Mensch und Natur. Der Wanderer über dem Nebelmeer, seit der Romantik fest zementiert in der deutschen Auffassung von Inspiration.

Dabei hält die Realität diesem Bild schon längst nicht mehr stand. Wer durch deutsche Städte geht, sieht keine Einsamen, zumindest keine Offensiv-Einsamen, keine jungen Männer, die wie im Kino ihren Mantelkragen hochschlagen und vor sich hin starrend durch den Regen laufen. Wobei, gestarrt wird immer noch, nur nicht mehr geradeaus, sondern auf das Smartphone in der Hand.

Einsam ist man natürlich immer noch, das ist der Mensch, das kann er gut. Nur sieht man ihn dabei nicht mehr. Die Einsamkeit wird, gerade im urbanen Raum, unsichtbar, und nur alten Menschen sieht man sie noch an, der Seniorin auf der Parkbank. Wer ein Smartphone in der Hand hat, wirkt beschäftigt: Er liest etwas, vielleicht schreibt ihm sein Freund, wie sehr er ihn vermisst, vielleicht freut sich eine Mutter über ein Selfie der Tochter, vielleicht erinnert die Frau den Mann daran, Brot einzukaufen.

Vielleicht ist es aber auch ganz anders: Da wurde jemand verlassen, da schreibt jemand zum letzten Mal “Ich kann das nicht mehr”, vielleicht wischt sich jemand seit Wochen auf Tinder durch die Profile anderer, denen man die Einsamkeit auch nicht mehr ansieht.

Wer heute allein ist, ist selbst schuld

Denn einsam muss man nicht mehr sein. Es ist 2019, und für jedes Problem bietet der Spätkapitalismus eine Lösung. Dating-Apps, Chats mit Freunden, eine Verabredung mit Fremden zum Boccia-Spielen, soziale Netzwerke. Einsamkeit kann vermeintlich aus dem Leben des modernen Menschen retuschiert werden, und wer dann noch allein ist, ist selbst schuld. Sagt die Moderne. Und hat damit nicht recht.

Denn er muss eben doch einsam sein, der Mensch. Genauso wie er wütend sein muss, wie er glücklich sein muss, wie er ab und an traurig sein muss, wie er am Ende eben einfach Mensch sein muss.

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