/Plätze in Europa: Ein Stammlokal für alle

Plätze in Europa: Ein Stammlokal für alle

Bevor man ins Ausland zieht, glaubt man oft vorher schon zu wissen, was einem fehlen wird. Ich war überzeugt, dass ich in Indonesien, wo ich jetzt lebe, vor allem Schwarzbrot, Käse, den Frühling, den Herbst und den Winter vermissen würde.

Es kam natürlich anders. Vor einigen Monaten wollte ich mich mit einem Buch auf eine Bank setzen. Ein bisschen lesen und nebenbei die Menschen um mich herum beobachten. Das Buch sollte eine Ausrede sein. Ich wollte eigentlich nur Menschen beobachten. Ihnen dabei zusehen, wie sie Kaffee trinken und verhandeln, sich austauschen, anschweigen und langweilen, von der Nüchternheit in den Rausch und wieder zurück schwanken, sich küssen, den streunenden Hunden zusehen. Orte, an denen das möglich war, hielt ich für selbstverständlich. 

Es liegt in der Natur des Selbstverständlichen, dass die, die es für selbstverständlich halten, nicht wissen, dass es das nicht ist. Zumindest bis sich etwas ändert. Wie sich nämlich herausstellte, war es nicht das Schwarzbrot, das mir fehlte, auch nicht die Jahreszeiten und nicht einmal der Käse: Es war der gemeine Platz. Die Piazza, der Markt, jedenfalls diese runde oder mehreckige freie Fläche mitten im Leben.

Von dieser Sehnsucht erzählte ich einem Menschen, der einmal Australier gewesen war, aber seit 25 Jahren Seemann ist und sich als heimatlos versteht. Auch er würde viel vermissen, sagte er, aber wo überhaupt anfangen, wir sollten lieber anstoßen. Und dann fragte er, was ich denn überhaupt meinte mit einem Platz. Ich versuchte es ihm zu beschreiben und sah ihm dabei zu, wie er in in seinem Kopf in Erinnerungen an vergangene Reisen und vergangene Zeiten wühlte. Ja, Australier hätten so etwas schon auch, aber da, wo er herkäme, da hätte es keine gegeben, und nein, hier brauchte ich mir gar keine Hoffnungen zu machen, hier habe er in all den Jahren, in denen er hier angelegt hat, noch keinen Platz, wie ich ihn meinen würde, gesehen. Das Bier half über die anschließende Ernüchterung nicht hinweg. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich Plätze, wie ich sie aus Europa kenne, für die wichtigsten und besondersten Orte unserer Außenwelt halte.

Auf ihnen bewegen sich Menschen und Tiere, stehen Gläser, Tische, Blumentöpfe und manchmal auch Autos in einer Vereinbarkeit, wie sie kein anderer Ort eines Dorfes oder einer Stadt zulässt. Plätze bieten denen Raum, die kein eigenes Zuhause haben und denen, die aus kleinen Boxen laute Töne jagen, jungen und alten Menschen, denen, die viel und denen, die wenig haben. Sie lassen Raum für Widerspruch, Raum für die, die Macht demonstrieren und die, die sich dagegen auflehnen. Während Positionen und Oppositionen kommen und gehen, bleibt der Platz beharrlich. Er hält aus und fängt auf. Auf Plätzen wurden Könige und Königinnen gekrönt und später das Ende der Monarchie verkündet, Diktaturen wurden hier von Demokratien abgelöst. Plätze sind geduldig. Auf ihnen dürfen wir verhandeln, wie wir zusammenleben möchten.   

Der deutsche Publizist Roger Willemsen sagte einmal, dass sich der
öffentliche Raum in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Zone
entwickelt hätte, die überwunden werden muss. Der öffentliche Raum ist nur noch dazu da, um durchquert zu werden und der Mensch wird in diesem
Raum nur mitbedacht, solange er in einem Auto sitzt. Das stimmt. Nur
der Platz hat sich dieser Entwicklung stets verwehrt, er versucht es zumindest.

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