/Professor: Sie werben mit Inklusion, aber einen Blinden wollen sie nicht

Professor: Sie werben mit Inklusion, aber einen Blinden wollen sie nicht

Rainer Schliermann ist fast blind und Professor. Weshalb Menschen wie er die Ausnahme sind und die inklusive Hochschule noch immer eine Illusion ist

Dass die Vorlesung beginnen kann,
hört er am Rascheln, am dumpfen Ton der über den Boden gezogenen Stuhlbeine und
der danach einkehrenden Ruhe. Rainer Schliermann steht an einem brusthohen
Pult, beide Arme abgestützt, die Beine überkreuzt. Rucksäcke fallen auf den
Tisch, Stühle werden gerückt, ungefähr 20 junge Menschen legen Blöcke und
Stifte bereit. Schliermann sieht seine Studierenden nicht. Dass er nahezu blind
ist, bemerkt ein Sehender erst beim zweiten Blick. Auf dem linken Auge sieht er
nichts, auf dem rechten nur noch wenige Prozent.
Er erkennt Umrisse, aus nächster Nähe kann er einen kleinen Ausschnitt sehen.

“Wie bewältigt man
Lebenskrisen?”, ist das Thema seiner Vorlesung heute. Schliermann kennt sich
damit auch in der Praxis nur zu gut aus. Er und sein Zwillingsbruder kamen als Frühchen
zur Welt, wochenlang lagen sie in einem Brutkasten, dessen Sauerstoffzufuhr
schlecht eingestellt war. Seitdem lebt Schliermann mit einer stark geschädigten
Netzhaut, sein Bruder blieb gesund. Jahre später hat er nach der Förderschule
das Gymnasium besucht, Abitur gemacht, danach Psychologie, Erziehungs- und
Sportwissenschaft studiert. “Ich saß immer in der ersten Reihe”, sagt
Schliermann. Stets dabei: Ein kleines silbernes Mini-Fernrohr, das er an sein
rechtes Auge hielt. Schreibt Schliermann Texte, drückt er den Stift gegen seine
Wange, sein Gesicht bewegt sich bei jedem Buchstaben mit. Liest er, berührt
seine Nasenspitze das Papier. “Dann funktioniert es aber ziemlich gut”, sagt
er.

Nach dem Studium schrieb Schliermann
eine Doktorarbeit über Stressbewältigung und Depressionen bei Fußballtrainern.
Danach habilitierte er, um an Universitäten und Fachhochschulen unterrichten zu
können. Trotzdem musste Schliermann sieben Jahre lang warten, bis ihm eine
Hochschule eine Professur ermöglichte. “Eine ziemlich frustrierende Zeit”, sagt
Schliermann. Bis heute hat er in einem Ordner alle Absagen gesammelt. Einige
Hochschulen lehnten ihn ab, weil er nicht qualifiziert genug sei. Andere
setzten ihn immerhin auf die Liste möglicher Kandidaten. Immer wieder wurde er
enttäuscht. “An der Qualifikation kann es nicht gelegen haben”, sagt
Schliermann. Besonders schlechte Erfahrungen machte er mit Universitäten, die als
fortschrittlich gelten: “Hochschulen, die mit Inklusion werben, haben mich
immer abgelehnt”.

“Menschen mit Behinderungen sind
deutlich häufiger und länger arbeitslos als nicht-behinderte Menschen”,
sagt Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. Er selbst ist
von Geburt an nahezu blind. “Auch ich habe lange suchen müssen, um nach dem
Studium Arbeitgeber überzeugen zu können, einem Blinden eine Chance zu geben”,
sagt Dusel. “Da gibt es immer noch Bilder in den Köpfen, wonach Menschen mit
Behinderungen weniger leistungsfähig seien”, sagt er. Schwerbehinderte
seien angeblich langsamer, schwerer zu kündigen, weniger kommunikativ. “Viele
schauen nur auf die Dinge, die Menschen mit Behinderungen nicht können. Der
Blick geht oft in Richtung Defizite und weniger auf die Kompetenzen, die sie
haben”, sagt Dusel.

Schliermann geht offen mit
Defiziten um. In der Einführungsvorlesung hat er den Studierenden ausführlich von
seiner Erkrankung berichtet. “Damit alle wissen, worauf sie achten müssen”. Daran
nicht aufzuzeigen, sondern einfach zu sprechen, haben sich die Studierenden
schnell gewöhnt. Schliermann, groß, schwarze Haare, blaue Jeans, geht auf alle
Fragen ein. Immer wieder bittet er die Studierenden mitzuschreiben,
nachzufragen. Er ist ein nahbarer Lehrer. Wie für jede Vorlesung hat er eine
Präsentation vorbereitet. Liest er vor, streckt er seinen Kopf nah an den
Bildschirm. Am Handgelenk trägt er eine große Digitaluhr, damit er die Zeit nicht
vergisst. Als eine Studentin zehn Minuten vor Ende der Veranstaltung gehen muss,
lächelt Schliermann.

Während immer mehr Menschen mit Behinderungen studieren,
ist Lehren mit Handicap eine Seltenheit. Nach Zahlen des Deutschen Studentenwerks
haben 11 Prozent aller Studierenden eine Behinderung oder chronische Krankheit.
Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung, wünscht sich, dass
mehr von ihnen später in Leitungspositionen von Hochschulen arbeiten: “Es
braucht eine stärkere Förderung von wissenschaftlichem Nachwuchs mit
Behinderung. Denn sie haben als Hochschullehrer später auch eine Vorbildfunktion,
wenn sie als Lehrende in Erscheinung treten”. Auch Matthias Jaroch, Sprecher
des Deutschen Hochschulverbands, sieht Handlungsbedarf. Immerhin hat die
Hochschulrektorenkonferenz schon vor zehn Jahren die “Hochschule für alle” gefordert.
“Wir sind da noch auf dem Weg. Das ist ein Prozess, den man immer wieder
evaluieren muss”, sagt Jaroch. In den letzten Jahren seien Fortschritte gemacht
worden, doch Hochschulen müssen weiter an sich arbeiten. Oft mangele es an der
Einstellung, meistens am Geld. Der Hochschulverband fordert deshalb, dass Bund
und Länder mehr Mittel zur Verfügung stellen. “Dann könnte man
Hochschulmitarbeiter besser schulen, damit sie sensibilisierter sind. Da ist
noch viel zu tun”, sagt Jaroch.

Dritter Stock, nur wenige Meter
vom Vorlesungssaal entfernt, befindet sich Schliermanns Büro. Ein Tisch für
Besucher, ein langer Arbeitsplatz mit zwei großen schwenkbaren Bildschirmen,
ausgestattet mit einer Software, die alles heranzoomen kann. Rechts daneben
eine Art Projektor, der gedruckte Texte wie mit einer Lupe vergrößert. Mehr
braucht Schliermann nicht, um Mails lesen und Prüfungen korrigieren zu können.
Der Aufwand, den eine Universität betreiben muss, um blinden Wissenschaftlern
wie ihm eine Chance zu geben, ist gering. Trotzdem bekam Schliermann immer
wieder Absagen, meistens wurde er gar nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen.

Dabei ist die Rechtslage
eindeutig. “Schwerbehinderte Bewerber müssen im öffentlichen Dienst zum
Bewerbungsgespräch eingeladen werden, sofern sie nicht offensichtlich
ungeeignet sind”, sagt der Jurist Michael Richter.
In Marburg leitet er eine Rechtsberatung für behinderte Menschen. Er vertritt sie, wenn sie im
Einstellungsverfahren an Universitäten benachteiligt werden. “Bei gleicher Qualifikation
müssen im öffentlichen Dienst Menschen mit Behinderungen bevorzugt eingestellt
werden”, sagt Richter. Zusätzlich gibt es eine Quote, die Arbeitgeber ab 20 Arbeitsplätzen
erfüllen müssen – fünf Prozent der Angestellten müssen eine Benachteiligung
haben. Tun sie das nicht, ist eine Strafabgabe fällig. “Für Professuren und
ähnlich hoch dotierte Stellen sind diese zu gering”, sagt Richter. Damit
Menschen zu ihrem Recht kommen und Universitäten empfindlichere Sanktionen
erleiden, empfiehlt Richter Diskriminierungsklagen. Damit “kann man bis zu drei
Monatsgehälter einklagen”, sagt Richter. Die Erfolgsaussichten sind groß.
Trotzdem entscheidet sich kaum einer der Betroffenen für eine Klage.

Auch Schliermann hatte darüber
nachgedacht, aber den Gedanken wieder verworfen. “Ich will willkommen und nicht
geduldet sein”, sagt er. Erst recht wollte er nie ein “Quoten-Professor” sein. Im
Sommer vor zwei Jahren dann die Zusage für die Stelle an der Ostbayerischen
Technischen Hochschule in Regensburg. Nach der Probevorlesung und dem Gespräch
mit der Kommission hatte er eigentlich kein gutes Gefühl gehabt. Er hatte sich
schon auf eine  weitere Absage
eingestellt. Doch dann die gute Nachricht: Erst die engere Auswahl, dann die
Zusage für die Professur. Den Moment, als er den Brief öffnete, werde er nie
vergessen, sagt Schliermann. Endlich hatte sich seine Ausdauer ausgezahlt. Schliermann
ist Langstreckenläufer. Er läuft seit seiner Jugend. Sein zweitgrößter Erfolg
war eine Teilnahme bei den Paralympics in Sydney. Sein größter der Job in
Regensburg.

Hits: 14