/Meinungsbildung: Je stärker ein Thema polarisiert, desto faktenresistenter werden wir

Meinungsbildung: Je stärker ein Thema polarisiert, desto faktenresistenter werden wir

Fakten spielen
in politischen Auseinandersetzungen keine wesentliche Rolle mehr. Speziell bei
heftig umkämpften Themen, die die Gesellschaft spalten, erscheint die
eigentliche Sachlage völlig irrelevant. Das Sicherheitsempfinden bleibt von
offiziellen Zahlen, die einen Rückgang der Kriminalität belegen, unberührt. Für
die Frage, ob Rassismus ein Problem unserer Gegenwart darstellt, scheint die
Dokumentation rassistischer Straftaten kein Gewicht zu haben. Studien, die
nachweisen, dass eine bestimmte Impfung wirksam ist (oder nicht), überzeugen
uns nur, wenn wir Impfungen ohnehin für sinnvoll (oder schädlich) halten. Kurz:
Gerade, wenn uns eine politische Frage besonders wichtig ist, halten wir nur
das für wahr, was unseren bereits gefassten Überzeugungen entspricht. Die
Politikwissenschaftler David Barker und Morgan Marietta nennen
dieses Phänomen
dueling
facts
. Es steht im Zentrum der viel beschworenen Krise der
Demokratie.

Wie könnte diese
Situation aber verändert werden? Übliche Vorschläge scheinen angesichts der
Faktenresistenz
ins Leere zu laufen. Nicht einmal eine höhere Bildung helfe,
schreiben die beiden Professoren: Die Universitäten würden den Studierenden
nicht beibringen, differenzierter zu denken, sondern ihnen nur die Linsen
schärfen, durch die sie die Realität ohnehin schon sehen. Sie gestehen
resigniert ein, dass sie keine Lösung anzubieten haben.

Bernadette Grubner arbeitet als Literaturwissenschaftlerin an der FU Berlin und denkt über Literatur, Psychoanalyse und Theorien der sexuellen Differenz nach. Aktuell forscht sie an der Yale University zur Begriffsgeschichte des "Genießens“. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

Bernadette Grubner arbeitet als Literaturwissenschaftlerin an der FU Berlin und denkt über Literatur, Psychoanalyse und Theorien der sexuellen Differenz nach. Aktuell forscht sie an der Yale University zur Begriffsgeschichte des “Genießens“. Sie ist Gastautorin von “10 nach 8”.
© privat

Dieses deutliche
Aussprechen der Ausweglosigkeit hat, finde ich, etwas Erfrischendes. Wenigstens
ist damit einmal gesagt, was bisher nur ungläubig zur Kenntnis genommen wurde:
dass es bei einigen Themen sinnlos ist zu versuchen, eine vernünftige
Durchsprechebene durch Appelle und den Hinweis auf Fakten wiederherzustellen.
Ist das einmal anerkannt, kann man vielleicht etwas freier darüber nachdenken,
worum es bei der vielbeschworenen Polarisierung eigentlich geht. Barker und
Marietta meinen, Überzeugungen würden durch “Werte” begründet. Aber können
Werte erklären, warum Menschen sich verbissen in einer selbst
zurechtgezimmerten Welt verbarrikadieren? Warum pochen wir immer vehementer auf “unsere” Fakten, obwohl bereits mehr als deutlich ist, dass uns das in der
Debatte nicht weiterbringt?

Die
Lacanianische Gesellschaftstheorie bietet hier eine Sichtweise an, die über die
Ebene der Werte hinausführt. Sie sagt, dass wir uns nur innerhalb einer
sprachlichen und sozialen Struktur auf die Welt beziehen können und dass wir so
stark in diese Struktur verstrickt sind, dass das unsere Existenz als Subjekte
berührt. Um sich darunter etwas vorstellen zu können, muss man sich ein Stück
weit auf diese Gedankenwelt und ihre komplexen Begriffe einlassen. Dann erst
wird erkennbar, dass sie neue Perspektiven auf durchgekaute Themen eröffnen kann.

Das Fremde in uns

Lacan zufolge
sind wir als Subjekte durch eine sprachliche Struktur erzeugt und geprägt, die
uns spaltet. Diese “Spalte” macht es unmöglich, dass wir ganz mit uns selbst
identisch sind – es gibt immer etwas in uns, das uns fremd bleibt und sich
unserem Begreifen entzieht. Aber auch jeder Weltbezug – unsere Wahrnehmungen,
unser Reflektieren und Verstehen, unsere sozialen und emotionalen Bindungen –
ist immer nur vermittelt (nie direkt und unmittelbar) möglich und durch die “Spalte” irritiert und gestört. Das bedeutet keine Relativierung von Wahrheit
oder Wirklichkeit in dem Sinn, dass Fakten beliebig sind und unsere Meinungen
von der Welt mit dieser selbst nichts zu tun haben. Vielmehr heißt es, dass wir
in unserem Zugriff auf die Welt eingeschränkt sind, und zwar nicht nur, weil
wir nur je zwei Augen und Ohren haben oder unsere Denkmöglichkeiten begrenzt
sind. Die genannte Störquelle, die “Spalte”, erzeugt vielmehr symptomatische
Bindungen an bestimmten Stellen, an denen wir mit anderen und der Welt in Beziehung
treten. Lacan nennt diese Bindungen “Genießen” und er lässt keinen Zweifel
daran, dass sich an diesen Stellen so etwas wie ein Abgrund öffnet, ein
erschreckender Blick in ein Nichts, sodass wir es lustvoll finden, wenn sich
dieser Abgrund durch unsere Einbildungen wieder schließen lässt.

Das klingt
dramatisch – wie kann man es sich im Alltag vorstellen? Eine Art des Genießens
ist fast immer am Werk, wenn wir etwas immer und immer wieder wiederholen,
obwohl wir es “eigentlich” lieber anders hätten. Ein Beispiel wären die immer
gleichen unerfreulichen Partnerschaftskonstellationen oder ein wiederholter
Selbstboykott im Beruf – all diese Fälle, die uns bei anderen sonnenklar
erscheinen (“Das hat etwas mit ihm oder mit ihr zu tun”). Bei uns selbst kommt es uns hingegen
höchst rätselhaft vor, warum es nicht und nicht gelingt, bessere Entscheidungen
zu treffen. Es gibt für solche Dinge gängige Erklärungen (mangelnde
Elternliebe, geringes Selbstwertgefühl). Doch das kaschiert eher, dass uns hier
ein Genießen bindet: die ambivalente Lust, einen Blick in den Abgrund – die
Spalte, die uns als Störquelle heimsucht – zu vermeiden. Warum ist diese
Vermeidung lustvoll? Die Lust entsteht aus der Illusion, dass es sich hier um
ein an sich lösbares Problem handelt und sich dahinter unsere wahre
Persönlichkeit verbirgt, die sich natürlich richtig entscheiden würde. Das kann
nur dann funktionieren, wenn wir leugnen, dass diese Gesamtkonstellation – das
lustvolle Wiederholen des Unlustvollen – bereits genau das ausmacht, was wir “wirklich
sind”. Und dieser Zusammenhang bewirkt, dass wir nicht bereit sind, diese Lust
aufzugeben – weshalb wir letztlich auch an den Abgrund, den wir zu vermeiden
suchen, gekettet bleiben.

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