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Andrea Nahles: Angepisst

Die Art, wie jemand geht, sagt nie nur etwas über die Gehende
aus, sondern immer auch etwas über die, die sie verlässt. Als die SPD-Chefin
Andrea Nahles ihrer Partei mitteilte, dass sie nicht nur ihre Ämter, sondern
auch ihr Mandat abgeben wolle, geschah das in einigen wenigen Zeilen. Gänzlich ohne
Aggression, ohne Wut. Im Prinzip sagte sie einfach Adieu.

Kann sich noch jemand erinnern, wie beleidigt der ehemalige
Bundespräsident Horst Köhler abzischte? Oder wie weinerlich Christian Wulff
bei seinem Abschied war? Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder? Wie sie immer
entweder dampfend oder grollend abtraten? Andrea Nahles’ Zeilen sind – man
kommt sich selbst blöd vor, wenn man es aufschreibt – ja, äh, sagen
wir es ruhig, liebevoll. 

“Bleibt beieinander und handelt besonnen!” Mit solchen
Worten geht, wer die totale Autonomie spürt. Wer kein Bedürfnis mehr danach
hat, irgendwem noch eine mitzugeben. Vielleicht ist es eine Überinterpretation,
aber irgendwie meint man zu spüren: Wer so schreibt, will mit den
Zurückgelassenen einfach nichts mehr zu tun haben
. So jemand will nur noch
Land gewinnen. Bloß weg, und anders weiterleben. 

Man liest und begreift sofort, dass sich alle Beteiligten zu
einem anderen Zeitpunkt längst alles gesagt haben. Nahles’ Zeilen erfüllen damit
zwei Funktionen. Erstens, die Mitglieder über ihren Abschied zu informieren,
und zweitens, das verheerende Bild, das die Partei in der Öffentlichkeit abgab,
beim Abgang zu reparieren. Angela Merkel, der die Angelegenheit
so wichtig war, dass sie sich noch am Sonntag an die Bevölkerung wandte,
gebrauchte für Andrea Nahles die für ihre Verhältnisse ziemlich vertrauliche,
ja fast privat anmutende Bemerkung: “Ich finde auch, sie ist ein feiner
Charakter.” Der Satz sollte mit einem Lächeln enden, aber irgendwie bogen sich
die Mundwinkel der Kanzlerin seltsam wehmütig auseinander. 

Nico Fried, ein für sein besonnenes Sprechen und Analysieren
bekannter SZ-Journalist, erzählte im Presseclub, dass Andrea Nahles nach der
Europawahl von ihren Genossen regelrecht “angepisst” wurde. Angepisst ist ein
ziemlich passender Ausdruck dafür, was man schon selbst hautnah erlebte, wenn
man einmal auf der gleichen Veranstaltung wie Andrea Nahles war. Die Art, wie sich
ihre Parteikollegen, oft aus der hinterletzten fünften Reihe, kaum, dass “fürs
Publikum geöffnet” wurde, über sie hermachten, kann man wirklich nur mit
nervigen Tölen vergleichen, die sich rasch anpirschen und kurz das Bein
anheben. Wer erlebt hat, wie die SPD-Chefin mit solchen Kollegen umging,
nahezu stoisch geduldig, der versteht, dass das “Einsteckenkönnen” auch eine Kehrseite hat. Denn die Kollegen hörten mit dem Mist einfach nicht auf. Angestachelt von Nahles’
Langmut, nahmen sie einer nach dem anderen das Mikrofon und pieselten, was das
Zeug hält. Man versteht ihren Abgang, man versteht ihn wirklich.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus sprach dagegen von nötiger “Achtsamkeit” in der Politik und auch sonst klang er sehr zärtlich, wie er – wie Merkel gleich am Sonntag – die Sache mit Andrea Nahles kommentierte. Wenn das aufrichtige Bedauern über deren Rücktritt nahezu ausschließlich von CDU-Politikern bekundet wird, dann spricht das nicht nur Bände, sondern ganze Bibliotheken über die Beziehungsqualität innerhalb der SPD. Wie will man Solidarität als Markenkern einer Partei etablieren, wenn eine Parteivorsitzende gerade ganz offensichtlich weggeekelt wurde? Mit so einer Haltung will kein Wähler zu tun haben. Gerade jetzt: Je ekelhafter sich das rechtsextreme Spektrum sprachlich und habituell verhält, umso mehr sehnen sich die Bürger nach Höflichkeit und Contenance.

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