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Tiananmen-Massaker: Der Tag, der nicht sein darf

Hunderte Meter lang ist der Trauerzug, der sich am vergangenen Sonntag
durch das Finanzzentrum Hongkongs schiebt: “Rehabilitiert die Studenten von 1989!”, rufen die
Demonstranten. In Händen halten sie gelbe Regenschirme – eine Hommage an die Hongkonger
Regenschirmbewegung von 2014
, die sich für die Unabhängigkeit von Peking eingesetzt hat.
“Rechenschaft für das Massaker vom 4. Juni!” und “Schluss mit der Ein-Parteien-Diktatur!”,
rufen sie. Die Passanten, viele aus Festlandchina fürs Wochenende zum Shoppen eingeflogen,
schauen ungläubig: “Worum geht es hier?”, fragt eine mit Dior-Tüten bepackte Frau. “Wir wollen
die kommunistische Partei hier nicht”, ruft eine ältere Demonstrantin zurück. “Was sollen
solche Aktionen bringen?”, antwortet eine andere Passantin. Kopfschüttelnd verschwinden die
Touristinnen in eine klimatisierte Mall.

Die Frage ist berechtigt. Tiananmen gerät in China in Vergessenheit, das Regime in Peking wird immer repressiver, und das Interesse an der Geschichte schwindet in der Bevölkerung. Dabei ist das Erinnern besonders wichtig, sagt es doch so viel über das heutige China aus.

Hongkong ist die einzige Stadt in China, in der wegen eines Sonderstatus öffentlich der Toten vom Tiananmen-Platz gedacht werden darf. 30 Jahre ist es her, seit Hunderttausende im Herzen Pekings kampierten und für politische Reformen demonstrierten – bis nach sieben Wochen Armeepanzer Studenten und Bürger überrollten. Bis heute kennt niemand die genaue Zahl der Opfer, die von Soldaten in der Nacht auf den 4. Juni 1989 getötet wurden. Bis heute darf niemand in China die Wunden sehen, die das Massaker in die Gesellschaft riss. Hongkong jedoch hat sie im Gedächtnis gespeichert: “Die Geister von Tiananmen haben die Stadt nicht verlassen”, schrieb kürzlich Benny Tai, Juraprofessor und Mitbegründer der Regenschirmbewegung.

Tai, heute 54 Jahre alt, war 1989 Anfang 20; fünf Jahre zuvor hatten Deng Xiaoping und Margaret Thatcher den Vertrag über die Rückgabe der britischen Kronkolonie an die Volksrepublik ausgehandelt. Tai und vielen Hongkongern war klar, dass der Erhalt ihrer Bürgerrechte an die Demokratiebewegung auf dem Festland geknüpft war. Mehrere Millionen Menschen solidarisierten sich 1989 mit den Pekinger Studenten auf den Straßen, sie schickten Geld und Zelte. Nach dem Blutbad organisierten örtliche Aktivisten die hollywoodreife Rettungsoperation “Yellowbird”, dank derer die meistgesuchten Studentenführer ins Exil flüchten konnten.

In Hongkong überwintere die Saat der Pekinger Demokratiebewegung, schreibt Tai in seinem Beitrag weiter. Anfang April wurde er wegen seiner führenden Rolle bei der Regenschirmbewegung zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt. Was kann aus dieser Saat noch sprießen?

Da sind die Jahre, die an den Erinnerungen zerren: Ein Großteil der Teilnehmer des diesjährigen Trauermarsches ist ergraut, ähnlich war es zuletzt bei den alljährlichen Kerzenwachen am 4. Juni im Hongkonger Victoria Park, deren Besucherzahlen stetig sinken. Junge Hongkonger, in ihrer Schulzeit noch klassenweise von ihren Lehrern angekarrt, bleiben heute fern. 1989 sei lange her, finden einige. Die Bewegung von Tiananmen sei eine rein chinesische Angelegenheit gewesen, finden andere Nachgeborene, die sich gar nur als Hongkonger sehen und alles Chinesische grundsätzlich ablehnen.

Hongkongs Trauer um die Toten von 1989 wirkt in diesen Tagen außerdem wie die vorweggenommene Trauer um den baldigen Verlust der eigenen Autonomie. Die Hongkonger sehen in dem Protest nicht nur einen Akt, die Erinnerung aufrechtzuerhalten. Sie sehen beim Blick auf Tiananmen ihre eigene Zukunft. Die Schikanen aus Peking nehmen zu, die Bürgerrechte erodieren. Als die Gedenkaktivisten Ende April in einem unscheinbaren Bürohaus im Stadtteil Mongkok das Museum des 4. Juni eröffneten, blockierten von Peking angestiftete regierungstreue Gruppen mit Plastikstühlen den Eingang, drei Wochen zuvor hatten unbekannte Einbrecher die Stromleitungen zerstört. Bislang handelte es sich dabei um indirekte Formen der staatlichen Einschüchterung, doch das Ende Hongkongs als Hort liberaler Freiheiten ist zum Greifen nahe.

Im vergangenen Sommer erkannte die Bundesregierung erstmals zwei Hongkonger Unabhängigkeitsaktivisten als politische Flüchtlinge an. Sollte im Juni wie geplant ein neues Auslieferungsgesetz verabschiedet werden, könnten Hongkonger für politische Vergehen künftig von der Festlandjustiz belangt werden. 2017 sagte Xi Jinping zur Feier der Rückgabe Hongkongs vor 20 Jahren, auch Hongkong trage Verantwortung für die Stabilität Chinas. Auf geschichtliche Ereignisse wie den 4. Juni bezogen, heißt das: Wer wie die Gedenkaktivisten an die unliebsame Vergangenheit erinnert, muss möglicherweise bald mit Strafen rechnen – ähnlich wie auf dem Festland.

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