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Nordirland-Konflikt: Rache!

Wer behauptet, die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg sei von
einer allgemeinen Bereitschaft zur Versöhnung und zum friedlichen Zusammenleben bestimmt
gewesen, hat insofern recht, als die Zeit der totalen Kriege, der Massenmorde und
Vertreibungen einstweilen vorbei war. 74 Jahre währe nun die Friedenszeit, so sagt man, das
geeinte Europa habe aus der Geschichte gelernt.

Wer so spricht, der unterschlägt die Kriege in Jugoslawien, im Baskenland und in Nordirland. Sie dauerten zum Teil Jahrzehnte, sie kosteten annähernd 125.000 Menschen das Leben. Der nordirische Konflikt endete 1998, der jugoslawische 2001, der baskische 2011. Niemand kann wissen, ob und wann ungestillte Rachebedürfnisse sich abermals Bahn brechen. Leicht könnten die vom Brexit ausgelösten Turbulenzen das labile nordirische Friedensgebäude zum Einsturz bringen. Im April hatte die sogenannte Neue IRA in der nordirischen Stadt Derry Anschläge unternommen und dabei eine Journalistin tödlich verletzt. Das könnte der Anfang neuer Unruhen sein.

Die Vorstellung, irgendwann müsste vergangenes Leid verschmerzt, irgendwann müssten kollektive Kränkungen überwunden sein, ist offenbar ein frommer Wunsch. Unter dem Motto
Remember 1690
wird noch heute der Sieg der Engländer über die Iren in der Schlacht am Boyne von der einen Seite gefeiert, von der anderen beklagt. Und die Schlacht auf dem Amselfeld 1389, als das Osmanische Reich gegen serbische, albanische und bosnische Fürsten kämpfte, wurde zu einem in zahllosen Liedern, Sagen und Denkmälern verewigten Mythos, der im Jugoslawien-Krieg seine tückische Macht entfaltete und die Feindschaft zwischen Christen und Muslimen ins Zeitlose überhöhte.

Sechshundert Jahre im einen Fall, dreihundert im andern scheinen nicht zu genügen, um alte Geschichten dem verdienten Vergessen anheimzugeben. Das ist insofern seltsam, als die persönliche Erinnerung, die sich ja nicht allein im Gehäuse des Ichs bildet, sondern auch aus den Erzählungen früherer Generationen speist, kaum weiter als einige Jahrzehnte in die Vergangenheit reicht.

Es kommt vor, dass ich ein Unrecht nicht vergessen kann, unter Umständen auch ein solches, das meine Eltern oder gar Großeltern erlitten haben. Irgendwann jedoch mildert der Gang der Zeit alte Demütigungen ab. Sicherlich gibt es auch heute noch so etwas wie einen Ehrenkodex, der Nachfahren verpflichten kann, eine den Vorfahren zugefügte Schmach in Erinnerung zu behalten, so wie man ein Erbstück hegt und pflegt. Doch daraus würde man in der Regel nicht folgern, zum Krieg aufgerufen zu sein.

In seiner
Genealogie der Moral
schreibt Nietzsche zu Beginn der zweiten Abhandlung, ohne Vergesslichkeit könne es für den Menschen kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart geben. Das Gedächtnis des Willens ist laut Nietzsche die Bedingung dafür, dass ich ein Versprechen abgeben und Verantwortung übernehmen kann. Damit stelle ich mich in einen sozialen Zusammenhang, es entsteht eine kollektive Erinnerung. Aleida und Jan Assmann nennen sie das “kulturelle Gedächtnis”. Es bildet sich auf der Basis von Überlieferungen religiöser, moralischer, sinnstiftender Art. Es ist “gemacht”, denn die Setzungen sind nicht beliebig, sie entstehen aus den Erfahrungen einer Nation, eines Staates, einer Gesellschaft. Die jeweils Mächtigen betreiben damit allzu gerne Erinnerungspolitik. Deren Renaissance begegnet uns immer öfter, in den revanchistischen Bestrebungen einiger osteuropäischer Parteien ebenso wie in den Neonationalismen mancher der westeuropäischen.

Sichtbarster Ausdruck der Erinnerungspolitik ist der Totenkult. Er folgt dem Versprechen “Ihr seid nicht umsonst gestorben”. In seinem Buch
Religion und kulturelles Gedächtnis
(2000) erläutert Jan Assmann den uralten Mechanismus am Beispiel der Israeliten, und er erwähnt das Denkmal des unbekannten jüdischen Märtyrers in Paris. Es trägt die Inschrift “Erinnere dich, was Amalek dir angetan hat”. Das ist ein Zitat aus dem Deuteronomium und bezieht sich auf den Bericht, die Israeliten seien bei ihrem Auszug aus Ägypten von Amalek verfolgt und niedergemacht worden.

Wie kann man dem Regime der Erinnerungspolitik entgehen? Denn sie (unter anderem) ist verantwortlich für das Wachhalten kollektiver Rachegelüste. Sie zu vergessen wäre eine heilsame Übung. Es hat fast den Anschein, als wäre die psychoanalytische Regel, das Verdrängte kehre in zerstörerischer Form wieder, nicht immer gültig, als könnte es zuweilen hilfreich sein, Vergangenes unter der Grabplatte des Vergessens einzuschließen. Natürlich wäre es am besten, man könnte verzeihen. Aber verzeihen können wohl nur Individuen, nicht Kollektive. Das Problem verschärft sich dadurch, dass man zwar sagen kann: “Erinnere dich!”, damit ich mir etwas vergegenwärtige, das mir bekannt ist oder war. Den umgekehrten Befehl “Vergiss es!” kann ich jedoch nicht befolgen, weil es kaum in meiner Macht steht, etwas absichtsvoll zu vergessen.

Der englische, aus Japan stammende Schriftsteller und Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro hat aus dem Dilemma einen faszinierenden Roman gemacht.
Der begrabene Riese
bezieht sich auf die frühenglische Geschichte im 6. Jahrhundert, als die von Osten eingewanderten Angelsachsen die römisch-keltische Bevölkerung verdrängten. Es ist aber kein historischer Roman, sondern vermischt fantastische Elemente mit Märchenmotiven. Es gibt Kobolde, Riesen und Menschenfresser, es gibt die christlich geprägten Britannier und die heidnischen Sachsen. Von der einstmals herrschenden römischen Kultur sind nur noch unwegsam gewordene Heerstraßen und zerfallene Villen übrig. Über den wilden Landstrichen liegt meistens Nebel. Er steigt nicht allein aus den zahllosen Sümpfen, er wird auch aus dem Atem einer riesigen Drachin gespeist, und dieser Atem raubt den Menschen das Gedächtnis.

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