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Europawahl in Ostdeutschland: Der Osten kann anders

Ja, natürlich, es ist nach der Europawahl auf der politischen Landkarte
nicht zu übersehen: In weiten Teilen des Ostens ist die AfD stärkste Kraft geworden. Die
Partei konnte zulegen, konnte sich verfestigen, sie wird sich nun noch stärker und besser in
vielen Gegenden verankern können. Sie wird das Klima und die Debatten beeinflussen und prägen.
Und das ausgerechnet in Gegenden, in denen es haufenweise Probleme gibt, die sich mit
Ressentiments und Politik-Verdruss mit Sicherheit nicht werden lösen lassen.

Aber, nein, es gibt keinen Grund, jetzt in Verzweiflung auszubrechen: Denn die vergangenen Wochen haben auch gezeigt, dass Dinge gut sind. Sogar im Osten.

An nicht wenigen Orten haben so viele Menschen für eine plurale Politik in Deutschland und Europa gekämpft wie seit vielen Jahren nicht mehr. Lauter, entschlossener, selbstbewusster denn je. Zu den Kommunalwahlen sind so viele Menschen auf Listenplätzen der Parteien – ja, auch der etablierten! – angetreten wie noch nie nach 1990. Die ostdeutsche Gesellschaft hat seit dem Jahr 2015 viel gelernt, auch über sich selbst. Sie geht enorm politisiert und vielleicht sogar gestärkt aus diesen Wahlkämpfen hervor.

Manche mögen das nicht glauben, aber könnte es sein, dass es im Osten jetzt gerade erst richtig beginnt, spannend zu werden? Der Wahlkampf für den Herbst, für die Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen, beginnt in diesen Tagen. Das Jahr 2019 muss kein Jahr des Untergangs sein. Es könnte auch eines des neuen demokratischen Aufbruchs werden.

Es gibt im Nachgang der Wahlen eine ganze Reihe von Überraschungen, positiven Ergebnissen und Hoffnungszeichen. Man muss nur richtig hinsehen und sich die Mühe machen, sie so komplex und vielschichtig zu deuten, wie sie in Wahrheit sind.

Die AfD als stärkste Kraft

Ergebnisse der Europawahl 2019

Quellen: Der Landeswahlleiter Brandenburg, Statistisches Landesamt Sachsen © ZEIT-Grafik: Doreen Borsutzki

Denn was auf den ersten Blick nicht auffällt, ist: In den allermeisten Regionen und Gegenden hat der überwiegende Teil der Menschen nicht für die AfD gestimmt. Nicht einmal von einem Rechtsruck kann vielerorts die Rede sein. In Dresden kamen Grüne, Linke und SPD zusammen auf fast 40 Prozent der Stimmen. Früher waren es zwar noch mehr. Es ist dennoch bemerkenswert, dass es in der Heimat von Pegida den linken Parteien weiterhin gelingt, breite Wählerschichten für sich zu mobilisieren. Jahre des Streits und der Auseinandersetzung liegen hinter der sächsischen Landeshauptstadt, sie haben tiefe Wunden in die Stadtgesellschaft gerissen. Aber die Kämpfe waren auch nicht umsonst: Politisierung ist nicht nur etwas Schlechtes.

In vielen anderen Städten, Landkreisen und Gemeinden gibt es Überraschungen. In der kleinen Stadt Torgelow in Vorpommern ist die SPD mit fast 27 Prozent zum ersten Mal in der Geschichte stärkste Kraft im Stadtrat geworden. Patrick Dahlemann, 30 Jahre alt, eines der politischen Talente seiner Generation, ist für diesen Erfolg verantwortlich. Er steht für eine junge Generation, die ganz bewusst im Osten lebt, hier Verantwortung übernimmt. Auch Franziska Schubert gehört dazu. Die grüne Oberbürgermeisterkandidatin ist in Görlitz zwar nur Dritte geworden – aber mit einem für eine Grüne überragenden Ergebnis.

Und auch wer in die Landkreise Thüringens schaut, sieht nicht nur unzählige ehrenamtliche CDU-Bürgermeister, sondern etwa den Landkreis Gotha, in dem der SPD bei den Kommunalwahlen ein Sieg gegen den Trend gelang.

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