/Österreichische Verfassung: “Ich bin da ziemlich entspannt”

Österreichische Verfassung: “Ich bin da ziemlich entspannt”

DIE ZEIT:
Gab es Momente in den vergangenen zwei Wochen – von der Entlassung des Innenministers bis
zum Misstrauensvotum gegen die Bundesregierung –, in denen Sie nervös wurden, weil die
Verfassung an ihre Grenzen stoßen könnte?

Manfred Stelzer:
Ach, da sind wir noch lange nicht. Ich bin da ziemlich entspannt.

ZEIT:
Ist die österreichische Verfassung für Situationen wie diese gerüstet?

Stelzer:
Ja, die kann einiges. Sie hat versucht, Gewalten auszutarieren und in Krisensituationen ein
ordentliches Management zu ermöglichen. Das Parlament ist daher – anders als zum Beispiel in
Großbritannien, wo es eine vergleichbare Gewaltenbalance nicht gibt – dabei nicht auf sich
allein gestellt.

ZEIT:
Wie meinen Sie das?

Stelzer:
Im Jahr 1920, als die Verfassung der Ersten Republik in Kraft trat, wurde ein
parlamentarisches Regierungssystem verwirklicht. Neun Jahre später kam es zu einer großen
Novelle. Dabei wurden die Kompetenzen des Präsidenten ausgebaut, damit er gerade in Zeiten,
in denen es keine klaren Mehrheiten gibt, oder auch in Situationen wie jetzt ausgleichend
wirken kann.

ZEIT:
Im Normalbetrieb fällt es nicht sonderlich auf, dass Österreich einen Bundespräsidenten
hat, in Krisensituationen ist er aber mächtig.

Stelzer:
Genau dafür ist die Verfassung konzipiert. Wenn man sich an den Präsidentschaftswahlkampf
von vor zwei Jahren erinnert, dann hatte man den Eindruck, einzelne Kandidaten würden die
Staatskrise am liebsten selbst herbeiführen, um im Amt mächtiger zu sein. Aber eigentlich
ist dieses Amt dazu da, um in Krisen stabilisierend zu wirken und chaotische Verhältnisse zu
verhindern.

ZEIT:
Ist das eine Besonderheit der österreichischen Verfassung?

Stelzer:
In gewisser Weise schon.

ZEIT:
Warum wurde das 1929 so geplant?

Stelzer:
Es war der Entwicklung der Zwanzigerjahre geschuldet, als die innenpolitischen Konflikte
zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen immer größer wurden. In dieser Situation
hat man versucht, die Ordnungskräfte zu stärken, wozu aber die Zustimmung der
Sozialdemokraten erforderlich war.

ZEIT:
Worum ging es da?

Stelzer:
Zum einen um die Zentralisierung der Polizeikräfte, die zuvor sehr föderal strukturiert
waren. Und dann natürlich um die Rolle des Bundespräsidenten. Es wurde festgeschrieben, dass
er vom Volk gewählt wird, und seine Kompetenzen wurden ausgeweitet. Er ernannte von nun an
den Bundeskanzler und auf dessen Vorschlag die Bundesregierung. Zuvor wurde die Regierung
nur durch das Parlament gewählt, nun musste der Bundespräsident auch zustimmen. Er kann
seitdem den Kanzler auch von sich aus entlassen.

ZEIT:
Innenminister Herbert Kickl konnte der Präsident nicht von sich aus entlassen, der Kanzler
musste das vorschlagen. Warum eigentlich?

Stelzer: (lacht)
Das war 1929 wohl ein Kompromiss. Ganz so stark sollte der Präsident dann
doch nicht sein. Er kann vieles nur auf Vorschlag der Bundesregierung machen. Der
entscheidende Punkt ist, dass die Bundesregierung das Vertrauen des Nationalrats
braucht.

ZEIT:
Rein verfassungsrechtlich müssen wir uns also keine Sorgen machen?

Stelzer:
Absolut nicht. Aber am Ende des Tages ist es natürlich eine demokratische Verfassung. Wenn
das Volk so wählen sollte, dass es keine Regierungsmöglichkeiten mehr geben sollte, na ja,
dann sind wir irgendwann am Ende der Fahnenstange. Das ist die Konsequenz in einer
Demokratie. Das Volk wird in die Pflicht genommen. Aber das ganz große Chaos kann ich mir
nicht wirklich vorstellen. Wenn nur der Bundeskanzler abgewählt wird, könnte beispielsweise
ein Elder Statesman das Amt übernehmen und für ein paar Monate als Regierungschef
einspringen.

ZEIT:
Und wenn es nun jede Woche zu einem Misstrauensvotum kommt?

Stelzer:
Dann könnte der Bundespräsident einschreiten und das Parlament auflösen. Die Neuwahl müsste
jedoch so stattfinden, dass innerhalb von 100 Tagen der nächste Nationalrat zusammentreten
kann.

ZEIT:
Bis dahin gäbe es kein Parlament?

Stelzer:
Bis auf den ständigen Unterausschuss, ja. Aber es wäre doch auch keine Staatskrise, wenn
der Nationalrat über den Sommer nicht handlungsfähig ist. Der Bundespräsident könnte
mithilfe des Notverordnungsrechts alles Wesentliche machen. Der hat jetzt noch gar nicht
alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft.

ZEIT:
Die Verfassung hat demnach noch einiges im Köcher?

Stelzer:
Die kann noch viel mehr, als bislang gezeigt wurde. Aber: Die Verfassung kann nicht alles.
Sie ist am Ende nur ein Text, gelebt und umgesetzt wird sie von den handelnden Personen. Sie
kann keinen Putsch und auch kein totalitäres Regime verhindern. Das kann keine Verfassung
der Welt.

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