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Englischer Fußball: Kick it like Brexit

Der Mensch, und der Fußballfan erst recht, ist immer auf der Suche nach Sinn. Je größer das Chaos, je stärker die Verwirrung, desto mehr sehnt er sich nach Bedeutung, desto mehr greift er nach irgendeiner Logik, mit der er die Realität einordnen kann.

Der Fußball ist auf dieser Suche eine vertraute, wenn auch verzerrende Lupe. Das komplexe Thema der katalanischen Unabhängigkeit zum Beispiel lässt sich für manchen Laien durch die Rivalität zwischen Real Madrid und Barcelona ein bisschen leichter verstehen. Die Migrationsdebatte in Deutschland kann man, wenn man so möchte, auf einen einzigen Mittelfeldspieler mit türkischen Vorfahren reduzieren.

Es war also nur zu erwarten, dass die zwei Europapokalendspiele, die in dieser Woche bevorstehen, schon jetzt mit dem Brexit in Verbindung gebracht werden. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Briten Europa verlassen wollen, sind die englischen Clubs auf Europas Fußballfeldern so dominant wie lange nicht. Sowohl im Europa-League-Finale am Mittwoch als im Champions-League-Endspiel am Samstag werden zwei Premier-League-Mannschaften gegeneinander antreten.

Kann man also aus dem fußballerischen Erfolg der Engländer irgendwas über das politische Chaos auf der Insel lernen?

Die mittlerweile ehemalige Premierministerin Theresa May glaubte schon, wie sie am Tag nach der Aufholjagd des FC Liverpool im Halbfinale gegen Barcelona erklärte.
“Liverpool hat eines gezeigt: Wenn alle sagen, dass du von deiner europäischen Opposition geschlagen bist und die Niederlage akzeptieren musst, wenn die Uhr heruntertickt, kannst du trotzdem gewinnen, wenn alle zusammenkommen,” sagte May vor dem Parlament. 

Hätte sie nur einen Divock Origi am Verhandlungstisch gehabt. Genau eine Woche vor dem Champions-League-Finale gab sich May mit ihrem Rücktritt doch geschlagen, weil ihre Partei und ihr Land weiterhin vom Brexit auseinanderdividiert wird.

Alle sehen nur das, was sie sehen wollen

Andere sahen derweil in den Triumphen von Jürgen Klopps Liverpool oder Maurizio Sarris Chelsea etwas anders. Die Premier League, so schrieb die linksliberale Guardian im Mai, sei nicht der Beweis, dass England Europa überlegen ist. Vielmehr sei sie mit seinen internationalen Spielern und Trainern eine “Ode auf kulturellen Austausch, an den Abbau nationaler Grenzen”. Mag sein, nur hat das niemand den Chelsea-Fans erzählt, die zuletzt im Frankfurter Bahnhofsviertel schon wieder über abgeschossene deutsche Bomber sangen.

Wer hat also Recht? Mit flapsigen Fußball-Allegorien kann man in der Brexit-Debatte schließlich alles Mögliche behaupten. Der eine sieht den guten alten Bulldoggengeist der kämpferischen Briten, die andere sehen den Triumph eines globalisierten, weltoffenen Modells, das das Beste aus allen Fußballkulturen zusammenbringt. Wie immer beim Brexit gibt es keine Versöhnung, weil alle nur das sehen, was sie sehen wollen.

Und doch kann man von der Premier League sehr viel über ein Land lernen, das ohnehin ständig zwischen Engstirnigkeit und Weltoffenheit, zwischen Tradition und Fortschritt schwankt. Wenig britische kulturellen Exporte sind wirklich so Britisch wie diese durchkommerzialisierte, aber trotzdem bezaubernde Fußballliga. Und ja, wer die Premier League versteht, kann vielleicht auch das Paradox des Brexits besser begreifen.

Schließlich ist die 1992 gegründete Premier League aus derselben Ära gewachsen wie das heutige politische Chaos. Das Ende des 20. Jahrhunderts hat in Großbritannien wie in vielen westlichen Gesellschaften etliche alte Gewissheiten über den Haufen geworfen. In den Achtzigerjahren zerfielen im Kampf zwischen der Thatcher-Regierung und den Gewerkschaften viele traditionellen Industrien in die Bedeutungslosigkeit. Die Privatisierungswellen und Deregulierungen der Märkte leiteten eine neue Ära ein, in der Dienstleistungen, vor allem der finanziellen Art, zum Standbein der britischen Wirtschaft wurden. In einer Ära, in der sich mit dem Internet und dem Ende des Kalten Krieges ohnehin viel änderte, hat sich Großbritannien auf ein völlig anderes Wirtschaftsmodell umgestellt.

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