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Österreich: Zwangspause für den Überflieger

Der junge Kanzler Sebastian Kurz konnte während der
Nationalratssitzungen im österreichischen Parlament oft dem Drang nicht
widerstehen, sich weniger mit den Reden der Opposition als mit dem Handy zu
beschäftigen. Er spiele wohl die ganze Zeit “Candy Crush”, ätzte einmal der sozialdemokratische
Fraktionschef Jörg Leichtfried vom Rednerpult aus hinüber zur Regierungsbank. 

An diesem Montag ließ Kurz das Telefon im Sakko. Das Abstimmungsergebnis
im Parlament war schließlich von historischer Dimension: Zum ersten Mal seit
1945 wurde eine Regierung samt Kanzler per Misstrauensantrag des Parlaments
hinweggefegt
. Mit fast ungläubiger Miene verfolgte Kurz die Angriffe der
Sozialdemokraten, von seinem Ex-Koalitionspartner FPÖ und der Liste Jetzt,
einer Abspaltung der derzeit nicht im Parlament vertretenen Grünen. Nur die
kleine liberale Partei der Neos stimmte nicht für den Rauswurf der Regierung.

Seit Montagabend steckt Österreich – eines der
wohlhabendsten Länder der EU ohne große soziale Verwerfungen – nun in einer
Regierungskrise, die Verfassungsrechtler bis ins Detail sezieren. Alle
namhaften Vertreter dieses Wissenschaftszweigs werden seit Tagen im TV interviewt.
Der Erklärungsbedarf ist groß, weil die Lage wegen der großen Befugnisse, die
der Bundespräsident in Österreich genießt, komplex ist: Alexander Van der Bellen muss nun in kurzer Zeit – es gibt keine Vorgaben in der Verfassung, aber
mehr als drei Tage sollten es nicht sein – einen Bundeskanzler ernennen. Er hat
dabei völlig freie Hand: Der Kandidat muss nur wahlberechtigt und darf seit
einem halben Jahr nicht im Gefängnis gesessen haben.

Ein Richter als Übergangskanzler?

Der Kreis der rund sechs Millionen Österreicherinnen und
Österreicher, auf die diese Kriterien zutreffen, wird sich in den kommenden
Stunden deutlich verengen: Wahrscheinlich wird einer der pensionierten Höchstrichter
zum Zug kommen. Dieser muss daraufhin dem Präsidenten eine Ministerliste
vorlegen, wobei der einzelne Kandidaten ablehnen kann. Danach braucht diese
Liste allerdings eine Mehrheit im Nationalrat, weil sonst auch diese Regierung
per Misstrauensvotum nach Hause geschickt werden könnte.

Bis Mittwoch dürfte der Präsident die Ernennung hinauszögern,
weil sich am Dienstag die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel treffen, um
über die Vergabe der EU-Spitzenämter zu streiten. Dort jemand hinzuschicken,
der noch nicht einmal seinen Schreibtisch bezogen hat, wäre nicht ratsam.

Das Misstrauensvotum gegen Kurz ist der dramatische
Höhepunkt der Ibiza-Affäre, die Österreich seit knapp zwei Wochen in Atem hält.
Nach dem Bekanntwerden des Ibiza-Videos hatte Kurz nicht nur den Rücktritt der
beiden Protagonisten, FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache
und Fraktionschef
Johann Gudenus, verlangt, sondern auch jenen von FPÖ-Innenminister Herbert Kickl. Die FPÖ war bereit, Strache und Gudenus gehen zu lassen. Nicht aber den
in der teils rechtsradikalen Partei äußerst beliebten Innenminister Herbert Kickl. Er
wurde zu einer Sollbruchstelle der Kurz-Regierung.

Doch wie konnte es zu dem Misstrauensvotum kommen? Die
sozialdemokratische Parteivorsitzende und Spitzenkandidatin Pamela Rendi-Wagner
– eine junge Ärztin, aber kein politisches Schwergewicht – konnte sich nicht
dazu durchringen, eindeutig Neuwahlen zu fordern. Auch als Kurz dem
Bundespräsidenten fünf Expertenminister seiner Wahl als Ersatz
für die FPÖ-Posten präsentierte und dieser die vom ÖVP-Kanzler Nominierten sofort akzeptierte,
muckte sie nicht öffentlich auf.

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