/Internationale Presseschau: “Die Verteidiger eines vereinten Europas haben der EU Zeit gekauft”

Internationale Presseschau: “Die Verteidiger eines vereinten Europas haben der EU Zeit gekauft”

Der Europawahl wurde im Vorfeld eine große Bedeutung zugemessen: Wie stark werden die antieuropäischen Parteien? Was wird aus den früheren Volksparteien, den Konservativen und Sozialdemokraten? Internationale Medien sehen die europafeindlichen Parteien weniger stark als erwartet, befürchten aber, dass die Mehrheitsfindung im EU-Parlament schwieriger wird.

“Schreck
oder Tod war angesichts der starken populistischen Welle, die den
Kontinent durchzieht, die Alternative, die sich vor den entscheidenden
Wahlen zum Europäischen Parlament aufgetan hatte. Letztendlich hat die
Abstimmung den Alarm stark abgemildert, da der Vormarsch der europhoben
Parteien geringer ausfiel als erwartet”, heißt es in der spanischen Zeitung El Mundo.

Die linksliberale polnische Zeitung Gazeta Wyborcza ist etwas kritischer: “Die Europäer lähmt seit längerer Zeit die Angst um ihre Zukunft. (…)
Selbst dort, wo Frieden das Selbstverständlichste ist, fürchten sie
Studien zufolge Instabilität und Kriege. Vielleicht können die
Populisten deswegen nicht von einem Erfolg sprechen. Die Vision, dass
sie Europa übernehmen, ist entrückt. Die Verteidiger eines vereinten
Europas haben der EU fünf Jahre Zeit gekauft.”

Positiv bewertet wird die gestiegene Wahlbeteiligung, etwa in La Repubblica aus Italien: “Mehr als die
Hälfte der 430 Millionen Wahlberechtigten ist an die Urnen gegangen.
Viele Junge waren darunter. Wenn Europa heute gerettet ist, ist das auch
und vor allem deren Verdienst.”

Das Parlament werde jedoch so zersplittert sein wie nie zuvor, ist in der Onlineausgabe des britischen Guardian zu lesen. “Und das ‘Weniger
Europa’-Lager aus Nationalisten, Souveränisten und Euroskeptikern,
selbst gespalten durch große Unterschiede bei Ideologie und Politik,
spiegelt diese Zerrissenheit wider.” Daraus folge, dass klare Mehrheiten für die EU-Gesetzgebung unwahrscheinlicher würden. “Spontane,
gruppenübergreifende Koalitionen werden üblicher werden, was
wahrscheinlich Entscheidungsfindungen in heiklen Fragen erschweren wird,
etwa beim nächsten EU-Haushaltsbeschluss, Grenzkontrollen oder
Klimaschutzmaßnahmen”, so der Guardian weiter.

Der Zürcher Tages-Anzeiger analysiert daher: “Die geschrumpften
Konservativen und Sozialdemokraten brauchen die Grünen oder die
Liberalen als Mehrheitsbeschaffer.” Das werde sich schon
in den nächsten Tagen zeigen, wenn es um das Schicksal der
Spitzenkandidaten bei der Europawahl geht. “Die
Konservativen bleiben zwar trotz Verlusten Nummer eins.
Manfred Weber
hat aber kaum Chancen, im neuen EU-Parlament eine Mehrheit zu bekommen
und den Anspruch auch gegenüber den Staats- und Regierungschefs
durchsetzen zu können.” 

“Eine grüne Kraft”

Der britische Sender BBC geht davon aus, dass die Ergebnisse sich auch auf die weiteren Brexit-Verhandlungen auswirken werden: “Die
Staats- und Regierungschefs der EU dürften wegen ihrer eigenen
nationalen politischen Dramen nun noch weniger bereit sein, den
Scheidungsvertrag (mit London) neu zu verhandeln, falls sie vom nächsten
britischen Premierminister darum gebeten werden sollten.”

Die liberale dänische Tageszeitung Politiken befasst sich mit den Grünen: “Bis
vor Kurzem wurde der europäische Tag des Jüngsten Gerichts prophezeit.
Aus der Wahl am Sonntag tritt nun ein ganz anderes Europa hervor.
Erstens sehen wir jetzt eine wirklich neue Kraft: eine grüne Kraft. Sie
wurde von einer klassischen Niederlage vieler traditionellen Parteien
aus dem sozialdemokratischen S&D-Block und der bürgerlichen
EVP-Gruppe begleitet. Deren Rückgang bedeutet, dass sie sich die Macht
nicht länger aufteilen können. Sie sind nun gezwungen, der grünen
Bewegung zuzuhören, die zu erfassen sie bislang zu langsam waren.”

Und die italienische Corriere della Sera blickt aufs eigene Land: “Seit Monaten gibt es (…)
zwei Regierungen: Es wird schwierig, jetzt dazu zurückzukehren, eine zu
sein. Die Allianz zwischen Fünf-Sterne-Bewegung und Lega, die politisch
bereits aus dem Gleichgewicht ist, ist nun auch zahlenmäßig umgeworfen.
Für eine Regierung, die aus Parteien zusammengesetzt ist, die keine
gemeinsame Perspektive haben, wird es kompliziert, ein neues
Gleichgewicht zu finden.” Und weiter: “Der Erfolg für Salvini bei
der Europawahl wird der Auftakt eines
Wettbewerbs auf allen Feldern mit den Fünf Sternen sein. (…) Das Ziel
der Lega wird die Übernahme der Koalition sein.”

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