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Europawahl: Die Fronten sind geklärt

1. Die Fronten sind geklärt

Die rechtspopulistischen
Parteien haben weniger Stimmen erhalten als befürchtet. In Deutschland büßte
die AfD im Vergleich zur Bundestagswahl leicht ein, in Österreich wird die FPÖ
von den Wählern im Vergleich zur Nationalratsabwahl abgestraft.
Das bedeutet: Im EU-Parlament
werden die proeuropäischen Parteien weiterhin die Mehrheit stellen. Der Zusammenschluss rechtspopulistischer Parteien rund um Matteo Salvini, der sich “Europa der Nationen und der Freiheit” nennt, kommt am Ende auf nur 7,6 Prozent der Sitze im EU-Parlament.

Aber zum vollständigen Bild gehört auch: In zentralen Ländern haben die Rechtspopulisten gesiegt. In Frankreich ist Marine Le Pen mit ihrem Rassemblement National erneut bei einer EU-Wahl stärkste Partei
geworden und hat die Partei von Präsident Emanuel Macron überholt. In Italien, immerhin ein EU-Gründungsmitglied, das nach dem Brexit die drittgrößte
Volkswirtschaft der EU sein wird, hat Salvini mit einem Anti-Flüchtlings-,
Anti-Islamisierungswahlkampf die Lega auf Platz eins gepusht. Und in Ungarn hat Regierungschef Victor Orbán mit seinem Anti-EU-Kurs seine absolute Mehrheit ausgebaut.   

All die neuen, rechtspopulistischen Abgeordneten werden nicht nur in Straßburg auf Posten pochen, auf Ausschussvorsitze und Berichterstatterposten.
Sie werden die Debatten bestimmen und Themen setzen. Und vielleicht werden sie
sich sogar zu einer Fraktion rund um die Lega und und Fidesz-Partei zusammenschließen. Das reicht für Blockade, oder mindestens Sabotage.

Für Europa bedeutet das, dass die Fronten endlich geklärt sind.
Proeuropäer auf der einen Seite, Antieuropäer auf der anderen. Zwar hat Salvini nie ernsthaft Italiens
Austritt aus der EU gefordert und auch die Italiener wollen nicht aussteigen.
Aber die Rechtspopulisten spielen bewusst mit Anti-EU-Ressentiments.

Das Pro-Europa-Lager hat nun die Chance, klare Positionen einzunehmen. Das bedeutet: keine zweideutigen Kompromisse mehr wie etwa die
jahrelange Toleranz der nationalistischen Fidesz in der konservativen EVP-Fraktion. Klare Haltung, wenn es um Rechtsstaatsverfahren wie etwa im Fall von Polen geht. Und vor allem eine schnelle, wirksame Reaktion, wenn Europas Basis infrage gestellt wird: die Achtung der
Menschenrechte.

2. Der Brexit wird Europa weiter lähmen

Der Brexit-Wahnsinn könnte als abschreckendes Beispiel gewirkt haben. Die EU-weite hohe Wahlbeteiligung von rund 50 Prozent mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass vielen Bürgern inzwischen
klar ist, was sie an der EU haben. In Großbritannien aber war die EU-Wahl vor
allem eins: ein zweites Brexit-Referendum. Und wenn Nigel Farage mit seiner
Brexit-Partei voraussichtlich sogar mehr als 30 Prozent der Stimmen bekommt, heißt das auch, dass – ergänzt um die
Stimmen für die Torys und für Labour, die sich nicht klar vom Brexit
distanzieren – weiterhin eine große Mehrheit der Briten für den Ausstieg aus
der EU ist.

Für die Austrittsverhandlungen Brüssels mit dem
Brexit-Hardliner Boris Johnson
als möglichem Nachfolger von Premierministerin Theresa May bedeutet das nichts
Gutes. Denn das nächste offizielle Austrittsdatum ist der 31. Oktober 2019. Genau
an diesem Tag endet die offizielle Amtszeit der aktuellen EU-Kommission. Gibt es
vorher keine Einigung über das Austrittsabkommen in London, muss eine neue, unerfahrene EU-Kommission als erste Amtshandlung am 1. November einen chaotischen
Brexit ohne Abkommen managen. Der Brexit und das innenpolitische Wirrwarr in Großbritannien werden die EU weiterhin kostbare Kraft kosten, die sie eigentlich für andere, zukunftsweisendere Fragen wie etwa den Klimaschutz bräuchte.

3. Nationale Parteien können mehr Europa wagen

In den vergangenen Jahren hat Deutschland leidenschaftlich über
europäische Themen diskutiert, über die Urheberrechtsreform, über mehr
Datenschutz, die Chlorhühnchen im Freihandelsabkommen TTIP und ja, selbst über
Gretas Thunbergs Klimaschutz-Forderungen. Und was passiert im Wahlkampf? Ausgerechnet
am Europatag, dem 9. Mai, brachte Thüringens linker Ministerpräsident eine neue
Nationalhymne für Deutschland ins Spiel.
Europathemen? Nicht in Sicht. Lieber
diskutierte die Große Koalition über die Grundrente und Enteignungen. Besonders
auffällig: Von der SPD, die das Thema Europa auf die prominente
erste Seite im Koalitionsvertrag verhandelt hatte, war kein einziger originär
europäischer Vorschlag im Wahlkampf zu hören. Auch von der CDU und der CSU kam nichts. Die
einzige Ausnahme waren die Grünen, die einen ambitionierteren europäischen Klimaschutz forderten.

Dass die Grünen jetzt europaweit so stark gewonnen haben, zeigt, dass viele Bürger inhaltlich
viel weiter sind. Noch immer fehlt es in den Parteizentralen offenbar
an Vorstellungskraft, dass sich Bürgerinnen und Bürger ernsthaft für
Themen interessieren können, die auf europäischer Ebene entschieden werden. Europa
krankt auch daran, dass die nationalen Parteien Europa überwiegend durch die
innenpolitische Brille anschauen.

Damit die EU aber eine Existenzberechtigung
hat, muss sie sich um europäische Themen kümmern, die dort am besten aufgehoben
sind: um Klimaschutz, Migrationsfragen, Handels- und Steuerfragen. Solange es keine länderübergreifenden Parteien oder transnationale Wahllisten gibt, braucht es die nationalen Parteien, die diese europäischen Fragen zum Thema machen.

4. Die Grünen müssen jetzt Osteuropa überzeugen

Keine Frage, in großen Staaten wie Deutschland und Frankreich haben die Grünen großen Erfolg. In Deutschland ging jede fünfte Stimme an sie, in Hamburg und Berlin waren sie sogar Wahlsieger. In Frankreich schafften es die Grünen auf Platz drei, sie haben 50 Prozent hinzugewonnen. Im nächsten EU-Parlament könnten die Grünen sogar von der sechstgrößten zur viertgrößten Fraktion aufsteigen.

Zum vollständigen Bild gehört aber: Der Erfolg der Grünen ist ein west- und nordeuropäisches Phänomen. In Osteuropa spielen die Grünen weiterhin keine Rolle. Ob in Polen, Rumänien, Ungarn, Slowenien und Kroatien, aber auch in Italien oder Griechenland: Hier werden umwelt- und klimapolitische Themen längst nicht so umfassend diskutiert. Das zeigt auch die politische Agenda der jeweiligen Regierungen. Wenn es etwa um den Ausbau der erneuerbaren Energien geht, haben die Regierungen in Warschau und Budapest ehrgeizige EU-Ziele blockiert.

Der Aufstieg der Grünenfraktion birgt die Chance, ein größeres Umweltbewusstsein in allen EU-Ländern zu schaffen. Ohne die osteuropäischen Länder wird es keinen ambitionierten Klimaschutz geben.

5. Europa braucht den Druck aus Deutschland

Ohne Deutschland geht in der EU wenig: Es ist das bevölkerungsreichste EU-Mitglied, der größte Nettozahler, kein anderes EU-Land teilt mehr Grenzen mit
anderen Ländern. Fast zwangsläufig kommt so einem Land eine Führungsposition in
der EU zu. Ob Euro, Klimaschutz oder
Russland-Sanktionen: Die deutsche Position ist wichtig in Brüssel, entweder
können sich andere Regierungen an ihr reiben oder sie unterstützen.

Doch aus Berlin kam lange vor allem eins: Schweigen. In den
vergangenen Monaten gab es keine konstruktiven, vielleicht sogar querdenkerischen
Gedanken zur Weiterentwicklung der EU. Die Antwort der möglichen zukünftigen
Kanzlerin Annegret Kramp-Karrenbauer
auf Macrons Vorschläge war nur ein Non.
Geht alles nicht.

Deutschland ist vor allem als Krisenmanager gut, in
Tippelschritten kann es sich von Rettungsplan zu Rettungsplan hangeln, das hat
die Eurokrise gezeigt. Aber wo Deutschland die EU mittelfristig sieht, das hat
Angela Merkel bislang gekonnt geheim gehalten. Stattdessen ist es Frankreichs
Präsident Emanuel Macron, der solche Debatten vorantreibt, etwa indem er transnationale Wahllisten gefordert hat.

Dabei gibt es so
viele europäische Themen, zu denen Deutschland eine Haltung einnehmen müsste.
Wie
viel Klimaschutz will Europa? Ist es bereit, Unternehmern
und Bürgern dafür Kosten aufzubürden? Wie soll sich die EU im Handelsstreit zwischen den USA und China verhalten? Wie geht Europa mit Google und
Facebook um, nicht nur, wenn es um Datenschutz und Marktmacht geht, sondern
auch bei Steuerfragen? Und ist es zugleich bereit, Steueroasen innerhalb seiner
Gemeinschaft – in den Niederlanden, Luxemburg oder Großbritannien – nicht länger zu tolerieren? Ohne eine Positionierung Deutschlands dazu wird wenig passieren.

Und all diese Fragen müssen die EU-Mitgliedsstaaten dringend klären, auch um den
500 Millionen Bürgern zu zeigen, dass Europa eine Existenzberechtigung hat.

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