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Synästhetiker: Schmecken Sie das?

DIE ZEIT:
Herr Zedler, etwa jeder zwanzigste Mensch ist Synästhetiker. Trotzdem weiß kaum jemand, was
das ist. Beschreiben Sie doch mal!

Markus Zedler:
Bei der Synästhesie im engeren Sinne sind Hören, Sehen, Schmecken, Riechen und Fühlen
miteinander vermischt. Viele erleben Musik oder Geräusche als Farben, andere schmecken oder
riechen Wörter. Es gibt jede erdenkliche Kombination.

ZEIT:
Manche Synästhetiker können Sachen…

Zedler:
…die kann man nicht können, denkt man! Wie bei der Mirror-Touch-Synästhesie: Diese
Menschen spüren, was sie bei ihrem Gegenüber sehen. Wenn ich mir jetzt über die Wange
streiche, könnten Sie das also auf Ihrer Wange fühlen. Einige empfinden sogar die Schmerzen
anderer.

ZEIT:
Ist das nicht Spinnerei oder übersteigerte Empathie?

Zedler:
Nein, neurowissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass genau diejenigen Bereiche
im Gehirn aktiviert sind, die dieses Fühlen auslösen. Oder dass beim Farbenhören auch das
Sehzentrum anspringt, obwohl nur ein akustischer Reiz vorliegt. Die Wahrnehmungen sind also
tatsächlich zusätzlich da.

ZEIT:
Woran erkennt man Synästhesie?

Zedler:
Synästhesie wird als natürlicher Teil der eigenen Person empfunden. Die Verknüpfungen
entstehen unwillkürlich, man kann sie nicht bewusst steuern. Und sie bleiben in der Regel
von Kindheit an ein Leben lang konsistent. Also ist das A für den einen
Graphem-Farb-Synästhetiker immer rot, für einen anderen immer gelb. Oder der Montag ist bei
einem Zeit-Raum-Synästhetiker stets unten rechts hinten. Jeder Synästhetiker hat eine
einzigartige Wahrnehmung – auch weil die meisten gleich mehrere Formen von Synästhesie
haben.

ZEIT:
Für manche haben Zahlen und Buchstaben sogar eine eigene Persönlichkeit. Schwer vorstellbar

Zedler:
Das kommt aber vor. Bei dieser Form der Synästhesie spielen Gefühle eine Rolle: Unbelebtes
und Symbole werden personifiziert, es entsteht eine soziale Beziehung. Kinder erzählen oft
anschaulich, was Zahlen oder Buchstaben für tolle Sachen machen: Die spielen miteinander
Fußball, und die Sieben kommt immer dazwischen und nervt.

ZEIT:
Als Mutter würde ich mir ernsthaft Sorgen machen!

Zedler:
Sollten Sie aber nicht. Das ist ein typischer Fall von sozialer Synästhesie. Man kann das
abklären, wenn man will, um eine Wahrnehmungsstörung ausschließen zu lassen. Übrigens,
Gefühle können umgekehrt auch Sinneswahrnehmungen auslösen. Gefühlssynästhetiker sehen ihr
Gegenüber oft farbig, entweder vor ihrem inneren Auge oder tatsächlich.

ZEIT:
Sprechen wir etwa gerade vom Aura-Sehen?

Zedler:
Ja. Synästhesie könnte eine Erklärung für dieses esoterische Phänomen sein. Mir hat ein
Synästhetiker mal gesagt, ich sei für ihn zyanblau. An ihren Farbwahrnehmungen können sich
diese Menschen orientieren, denn sie wissen intuitiv: Zyanblau ist gut für mich,
Olivbraungrün eher ungut, da ist Vorsicht geboten.

ZEIT:
Das klingt schon etwas seltsam.

Zedler:
Viele, die sich mit Synästhesie nicht beschäftigen, packen das Phänomen erst mal in die
Ecke der Psychosen, Halluzinationen oder Wahrnehmungsstörungen. Oder zur Esoterik. Die
Gesellschaft tut sich schwer, Synästhesie als etwas Nichtkrankhaftes oder sogar
Vorteilhaftes anzuerkennen.

ZEIT:
Synästhesie ist also keine Krankheit?

Zedler:
Nein. Sie ist ein Plus, eine Verbesserung der Hirnfunktion. Man könnte sagen, Synästhesie
ist ein Luxus; eine Spielart der Evolution, die es dem Bewusstsein erlaubt, durch die
Verknüpfung der Sinne und die Kopplung mit Gefühlen mehr Informationen zu generieren.
Wissenschaftliche Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren haben nachgewiesen, dass
Synästhetiker ein komplexer vernetztes Gehirn haben.

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