/Europawahl in Deutschland: Diese Europaliebe bitte nicht falsch verstehen

Europawahl in Deutschland: Diese Europaliebe bitte nicht falsch verstehen

Deutschland bleibt ein proeuropäisches
Land
. Rund 70 Prozent der abgegebenen Stimmen dieser Europawahl entfielen auf Grüne, SPD,
Union und Linke – alles Parteien, die die EU positiv sehen. In den Nachwahlbefragungen der ARD sprachen sich mehr als 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler dafür aus, dass Europa künftig wieder mehr gemeinsam handelt und nicht nur jeder auf sich schaut. 2014
waren nur 70 Prozent.

Das ist eine wichtige Nachricht, auch
wenn sie durch die historisch schlechten Ergebnisse von Union und SPD erst mal
in den Hintergrund rückt und die Frage nach der Halbwertszeit der großen
Koalition
die Debatten in den Fernsehstudios bestimmt.

Die AfD, die auch über einen “Dexit” fabuliert
hat, bleibt mit zehn Prozent unter ihren eigenen Erwartungen und unter dem Ergebnis
der vergangenen Bundestagswahl. Auch das ist in diesen Zeiten keine
Selbstverständlichkeit mehr.

Ein Klischee über die Deutschen besagt,
dass sie keine Veränderungen mögen. Die ganz großen Visionen, Wagemut gar, das ist
nichts für Deutschland – die politische Experimentierfreude hält sich in engen Grenzen.
Vielleicht haben die Deutschen auch deswegen trotz eines langweiligen und
inhaltsarmen Wahlkampfs der populistischen Versuchung bisher ganz gut widerstanden.

Auch die Grünen orientieren sich an der Mitte

Die große Mehrheit der Deutschen schätzt
die Europäische Union und sieht die Vorteile für das eigene Leben. Doch die
Europaliebe ist weniger heißblütig, sondern vielmehr pragmatisch. Die Deutschen
wollen die Freizügigkeit, den gemeinsamen Binnenmarkt und den Euro erhalten.
Aber wenn es um mehr Macht für die EU-Kommission geht, eine europäische
Sozialpolitik oder eine gemeinsame Armee, sind sie deutlich zögerlicher: So
sagte beinahe jeder zweite Wähler bei der Frage nach den Gründen für seine Wahlentscheidung auch, Europa mische sich zu sehr ein.

Diese proeuropäische Ambivalenz zeigt
sich im Wahlergebnis: Stärkste Partei in Deutschland bleibt die Union. Sie
steht für ein Euro0pa des Status quo, nicht mehr. Angela Merkel sagt, Europa
liege ihr am Herzen. Aber auf die Visionen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zur Vertiefung der Union hat sie bis heute nicht wirklich inhaltlich geantwortet.
Anders als mancher in der SPD würde sie niemals von “Vereinten Staaten Europas”
träumen. Ihr Deutschland hat Südeuropa in der Migrationsfrage bis heute weitgehend
im Stich gelassen. Doch als ein Euro-Austritt Griechenlands im Raum stand, hat Merkel
alles unternommen, das zu verhindern.

Das Gute bewahren, aber gleichzeitig nicht
zu viel Neues wagen. Das ist in Deutschland nach wie vor mehrheitsfähig.

Daran ändert auch nichts, dass auf Platz
zwei in der Wählergunst nun die Grünen folgen. Jeder dritte unter 25-Jährige
hat für sie gestimmt. Aber wurden sie aufgrund ihres europapolitischen Programms
gewählt? Eher nicht. Die Grünen haben mit dem Klimaschutz eine Leerstelle
besetzt. Ohne die Grünen und die freitäglichen Schülerproteste (Fridays for Future)
hätten das die etablierten Parteien wohl nie verstanden. Das Wahlergebnis ist
nichts anderes als eine schallende Ohrfeige für alle, die den Klimaschutz
bisher zum B-Thema gemacht haben.

Die Lage der EU muss pragmatisch betrachtet werden

Die Grünen profitieren auch davon, dass die Partei viel bürgerlicher und
kompromissbereiter auftritt als früher. Sie verspricht Veränderung, aber
bleibt dabei realistisch. Für eine “moderne, bürgerliche Politik” lobt sie
selbst die Mehrheit der Unionswähler. Die Grünen haben gut erkannt, was sie der
politischen Mitte zumuten können und was nicht.

Was bedeutet das für die deutsche
Europapolitik? Sie muss vor allem beim Klimaschutz konkreter werden, sollte
aber die Mitte nicht aus dem Auge verlieren. Die Deutschen wünschen sich eine
gemeinsame Außenpolitik  – gegen China und notfalls auch die USA. Die
Migrationsfrage hat diesen Wahlkampf nicht dominiert, aber jeder Dritte sieht
das Thema weiter als “wichtiges Problem”
, für das es bisher noch keine
gute Lösung gibt. Eine radikale Vergemeinschaftung der Finanzpolitik würde in Deutschland für viele Diskussionen sorgen.

Der deutsche Europapragmatismus trifft zudem auf eine EU, für die die Bewahrung des Status quo schon
schwer genug ist. Auch wenn der Rechtsruck nicht so groß ausfällt wie
befürchtet, die gemeinsamen Interessen der bald 27 Staaten sind derzeit klein. Eine deutsche Regierung, egal welcher
Couleur, wird sich in den kommenden Jahren bei all diesen Fragen in der EU für Kompromisse einsetzen müssen. Wenn sie dabei neue Ideen mit viel
Pragmatismus verbindet, kann es gut werden. Aber auch nur dann.

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