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Jens Spahn: Der digitale Patient

Geht Priit Tohver zu einem neuen Arzt, muss er weder eine Tasche mit
vielen Unterlagen mitnehmen noch lange seine Krankengeschichte erzählen. Alle bisherigen
Laborwerte und Röntgenbilder, Arztbriefe oder verordneten Medikamente sind in seiner
elektronischen Patientenakte auf einem Server gespeichert.

Der Arzt kann sich die Dokumente, die für die Behandlung relevant sind, auf den Bildschirm
holen. Sollte Tohver nach einem Unfall bewusstlos sein, kann der Rettungssanitäter schon im
Krankenwagen auf die Daten zugreifen. Als Zugangsschlüssel dient allein der Chip im
elektronischen Arzt- oder Sanitäterausweis. Eine zusätzliche Autorisierung durch den Patienten
ist nicht nötig.

Priit Tohver lebt in Estland, schon vor zehn Jahren hat der kleine baltische Staat sein
gesamtes Gesundheitswesen digitalisiert. Praxen, Kliniken, Krankenkassen und Patienten
kommunizieren ohne Papier, sämtliche Rezepte werden elektronisch ausgestellt und abgerechnet.
Eine Software warnt Ärzte wie Apotheker, wenn sie einem Patienten Medikamente verschreiben
oder überreichen, die zu gefährlichen Wechselwirkungen mit anderen Arzneien führen können. So
effizient und nutzerfreundlich kann ein Gesundheitssystem aussehen.

Es kann aber auch aussehen wie in Deutschland. Seit fast zwei Jahrzehnten wird hierzulande an
elektronischen Gesundheitsdiensten gewerkelt, bislang ohne sichtbaren Erfolg. Jens Spahn ist
bereits der fünfte Gesundheitsminister, der sich um die Digitalisierung der Patientendaten
kümmern soll. Bei seinem Amtsantritt stellte er das Thema in den Mittelpunkt seiner
Arbeit.

In der vergangenen Woche machte Spahn dann mit dem Plan von sich reden, dass Krankenkassen
künftig Gesundheits-Apps fürs Smartphone bezahlen sollen
. Diese können zum Beispiel
Diabetiker, Schwangere oder Patienten mit Bluthochdruck im Alltag unterstützen. Das ließe sich
schnell umsetzen. Mit der elektronischen Patientenakte für alle, in der sämtliche wichtigen
Daten gespeichert sind, hat das aber nichts zu tun. Die nannte der ehrgeizige Minister
übrigens zu Beginn seiner Amtszeit den “Berliner Flughafen des Gesundheitswesens”.

Begonnen wurden die Arbeiten an dieser Großbaustelle Anfang des Jahrtausends, Anlass war ein
Medikamentenskandal. Der Cholesterinsenker Lipobay hatte im Zusammenspiel mit anderen
Medikamenten zu mehr als 50 Todesfällen geführt. Um so etwas in Zukunft zu verhindern,
beschloss die damalige rot-grüne Bundesregierung, wichtige Patienteninformationen leichter
zugänglich zu sammeln: in einer elektronischen Patientenakte.

Die sollte nicht nur gefährliche Medikamentenwechselwirkungen vermeiden, sondern auch
unnötige Doppeluntersuchungen – und den Austausch zwischen Kliniken, Ärzten und Krankenkassen
enorm erleichtern. Von einem “Business-Case erster Güte” schwärmte der damalige
Gesundheits-Staatssekretär Klaus Theo Schröder auf der Computermesse Cebit. Man gehe davon
aus, dass die Kosten des Projektes spätestens nach zwei Jahren wieder hereingeholt sein
würden.

Das war 2003. Seitdem wurden rund zwei Milliarden Euro in die Digitalisierung des deutschen
Gesundheitswesens investiert – ohne dass Patienten oder die Volkswirtschaft daraus irgendeinen
Nutzen gezogen hätten. Im Digital-Health-Index der Bertelsmann Stiftung belegt Deutschland von
17 untersuchten Industrieländern den vorletzten Platz. Der Grund: Die Bundesregierung überließ
es den Ärzten, Kliniken und Krankenkassen, sich auf ein System zu verständigen. Doch deren
Interessenverbände verhakelten sich so sehr, dass selbst kleinste Fortschritte unmöglich
wurden. Noch nicht einmal die wichtigsten Notfalldaten – von der Blutgruppe bis zu
Medikamentenallergien – sind heute auf der Gesundheitskarte der Krankenkassen gespeichert.

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