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Goldene Palme: Cannes hat seine Favoriten

Champagner? Stilettos? Zu den großen Mythen des Filmfestivals von Cannes gehört, dass es wahnsinnig viel Glamour böte. Nun, nicht für Journalistinnen und Journalisten. Meist stocknüchtern verbringen sie viel Zeit in dunklen Kinosälen, noch mehr Zeit verbringen sie nur in den Warteschlangen davor (meist ohne Stilettos). Das Festival gehört zu den Kulturveranstaltungen, über die weltweit am intensivsten berichtet wird. Mehr als 4.000 Journalisten haben sich auch in diesem Jahr wieder akkreditiert. Mit gefühlt der Hälfte davon ist man irgendwann zwischen den Absperrgittern ins Gespräch gekommen. Und so weiß man zwar nach zwölf Tagen Dauerglotzen kaum noch, ob draußen gerade Tag oder Nacht herrscht, aber ganz sicher, dass es zu jedem Film auch die gegenteilige Meinung zur eigenen gibt. Man kann sich also, bevor am Samstagabend Alejandro González Iñárritu höchst offiziell und glamourös mit seiner Jury sieben Preise an 21 Wettbewerbsfilme verleihen wird, jetzt dem lustvollen Spekulieren hingeben. Hinterher wird es dann irgendjemand sicher besser gewusst haben. Dazu schon an dieser Stelle herzlichen Glückwunsch.

Wer also wird die Goldene Palme bekommen? Eigentlich – das ist beim Spekulieren das wichtigste Wort – eigentlich sollte sie Pedro Almodóvar für sein kluges und schönes Altersfrühwerk Leid und Herrlichkeit bekommen. Darin erzählt der spanische Filmemacher von einem Filmemacher, der von Schmerzen aller Art geplagt wird: von seinem Rücken, von Migräneanfällen, von der Trauer um die Mutter, vom Schmerz, sich nie mit der großen verlorenen Liebe ausgesöhnt zu haben. Es ist Almodóvars eigene, wenn auch fiktionalisierte Lebensgeschichte. Manche haben in Cannes gesagt, früher war Almodóvar schriller. War er. Andererseits war selten so viel Eleganz, Witz, Zärtlichkeit und Klugheit in einem seiner Filme. Und man darf beim Verleihen der ganz großen Palme auch ruhig ein wenig mitbedenken, wie Almodóvar nach der Franco-Herrschaft in der spanischen Movida mit seinen filmischen Ideen das Kino überhaupt erst wieder zum Leben erweckt hat.

Leid und Herrlichkeit könnte natürlich auch den Grand Prix gewinnen. Ursprünglich sollte damit im Gegensatz zur Goldenen Palme ein Film geehrt werden, der “zugänglicher” ist. Almodóvars Film ist sehr zugänglich. Aber an diese Regel hat sich bislang eigentlich nie eine Jury gehalten. Der Grand Prix ist heute einfach die Silbermedaille. Wenn Almodóvar die bekäme, an wen ginge dann die Goldene Palme?

Das Branchenblatt Screen beschäftigt jedes Jahr für die Festivalzeit eine eigene Jury aus internationalen Kritikern, die jeden Film mit Sternchen bewerten: vier, drei, zwei, eins, Buh. In diesem Ranking schneidet nicht Almodóvar am besten ab, sondern die südkoreanische Thrillerkomödie Parasite. Die Ki-Taeks sind eine Familie aus Vater, Mutter, erwachsener Tochter und erwachsenem Sohn. Sie stehen einander nahe, wohnen auch zusammen, allerdings weniger aus Zusammengehörigkeitsgefühl als aus ökonomischer Notwendigkeit: Alle vier sind arbeitslos und kommen gerade so mit dem Falten von Pizzaverpackungen über die Runden. Dann gelingt es dem Sohn, als Englischlehrer in der reichen Familie Park angestellt zu werden. Nach und nach schafft er es mit Tricks und Tücke, auch seiner Schwester, seinem Vater und schließlich der Mutter eine Stelle in dem wohlhabenden Haushalt zu verschaffen, ohne die wahren Verwandtschaftsverhältnisse preiszugeben. Immer wieder scheint der Regisseur Bong Joon Ho das Falschspiel seiner Figuren auffliegen zu lassen. Immer wieder geht es gerade noch mal gut. Erst als die von den Ki-Taeks vergraulte Haushälterin noch einmal auftaucht, weil sie etwas Wichtiges im Keller vergessen hat, gerät die Situation außer Kontrolle. Vordergründig ist Parasite ein formvollendeter, vor absurdem Witz sprühender Thriller. Zugleich ist der Film aber auch eine Parabel auf das Leben in Armut und Reichtum, über Herrschen und Dienen. Darüber, wie viel die Menschen bereit sind, zu tun (oder anzurichten) in ihrem Streben nach einem besseren Leben. Letztlich ist nicht der Film grotesk, sondern der Reichtum der netten Parks und die Not der Ki-Taeks.

Sicherlich mit einem Preis geehrt werden könnten auch die Filme Portrait of a Lady on Fire und Atlantique. Denn – so viel Agenda muss man mitdenken – Preise an einen französischen Beitrag und an eine Filmemacherin würden das Festival sehr freuen. Und diese beiden hätten es auch ohne Ansehen von Nationalität und Gender verdient. In Portrait of a Lady on Fire erzählt die renommierte französische Filmemacherin Céline Sciamma in einer klaren schlichten Struktur die kurze Liebesgeschichte zwischen der ehemaligen Klosterschülerin Heloise (Adèle Haenel) und der jungen Malerin Marianne (Noémie Merlant) im 18. Jahrhundert. Die eine ist gekommen, um ein Porträt der anderen anzufertigen – für deren zukünftigen Ehemann. In den paar Tagen, die die beiden miteinander verbringen, entwickelt sich aus Heloises Faszination für Mariannes selbstbestimmtes Leben als Künstlerin eine gegenseitige Leidenschaft. Aber beide wissen, dass die keine Zukunft haben kann. Immer wieder erwähnen sie die Geschichte von Orpheus und Euridike: Welchen Wert hat die Erinnerung an die eine große Liebe? Die einzige, die Céline Sciamma einen Preis streitig machen kann, ist ihre eigene Hauptdarstellerin (und Lebenspartnerin) Adèle Haenel, der sie die Rolle der entflammten Frau auf den Leib geschrieben hat. Gut möglich, dass Haenel dafür einen Darstellerpreis bekommt. Dann wäre – zumindest nach offiziellem Reglement – für Sciamma höchstens noch der Preis für die Regie oder das Drehbuch drin.

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