/Achtsamkeit: Hornhaut auf die Seele!

Achtsamkeit: Hornhaut auf die Seele!

Achtsamkeit nervt. Das tut sie nicht, weil sie nicht richtig funktioniert.
Im Gegenteil. Drei Daumen hoch dafür, dass sie uns so viel aufmerksamer gemacht hat. Dank
Achtsamkeit sind wir aufgeschlossener. Wir sind rücksichtsvoller, empfindlicher und
empfänglicher für das Hier und Jetzt. Auch für uns selbst. Für den Zusammenhang der Dinge. Für
die Ströme und Strahlen, die uns und andere durchdringen und stimmen, lenken und leiten, mit
Energie versorgen oder sie uns entziehen. Also das alles ist schon wahnsinnig toll. Es macht
aber auch alles wahnsinnig problematisch.

Je achtsamer man ist, umso mehr muss man ja auf sich achten. Und umso mehr bekommt man mit. Ist man erst mal achtsam, achtet man zum Beispiel auch auf Leute, auf die man zuvor niemals geachtet hat. Jetzt aber weiß man mit gesteigerter Empfindlichkeit und Aufmerksamkeit, dass sie da sind. Man kann geradezu körperlich spüren, wie sie im Hier und Jetzt rumstehen. Was für Zeug sie reden. Mit was für einer Stimme sie das tun. Vielleicht tragen sie einen komischen Schal um den Hals. Vielleicht bewegen sie die Schultern beim Reden so hin und her, hin und her, immer hin und her, man kann gar nicht wegschauen, muss es vor lauter Achtsamkeit aber tun und denken: Das tut mir nicht gut, das tut mir nicht gut. Und wenn man wirklich achtsam ist, wenn man nur aufmerksam und empfindlich genug auch für sich selbst ist, spürt man überaus genau, wie schlimm man selbst mit der Zeit geworden ist, weil man so furchtbar aufmerksam, so schrecklich empfindlich sogar auf einen Schal, eine Stimme und dieses furchtbare Hin und Her der Schultern reagiert.

Hat man es dann noch beim Gegenüber ebenfalls mit einer achtsamen Person zu tun, die nun ihrerseits so feinnervig ist, dass sie auf die Schwingungen reagiert, die ihre Stimme, ihr Schal und ihr nerviges Schultern-Hin-und-Her auslösen, und die dann auf die eigene Reaktion reagiert, können dramatische Rückkoppelungen entstehen. Wenn mehr als drei Achtsame im Raum sind, die es gar nicht mögen, dabei zuzuschauen, wie sich andere Achtsame verhaltensauffällig achtsam verhalten, kommt es schnell zu blanken Aggressionen. Und genau so muss man sich eigentlich im Moment die Welt vorstellen. Genau so.

Vielleicht sollte man deshalb lieber zu Hause bleiben, sich einspinnen und alleine achtsam sein. Stimmt aber auch nicht. Zu Hause in aller Ruhe Nachrichten gucken oder Zeitung lesen geht gar nicht. Man wird ja verrückt, wenn man sich aufmerksam, neugierig, aufgeschlossen und hochempfindlich anguckt, was da draußen vor sich geht. Bildschirm ausmachen, Zeitung zuklappen geht aber auch nicht. Wenn man nur achtsam genug ist, weiß man ja: Man muss doch immer schön aufmerksam bleiben für das, was einem nicht guttut. Damit man etwas machen kann, das einem guttut. Aber wie soll das gehen?

Richtig hart wird es, wenn man sich bei Facebook oder Twitter umschaut. Wie kann man das so sortieren und einrichten, dass es das eigene Wohlbefinden befördert? Wie soll man umgehen mit all den bratzigen Posts, den ganzen hochgestürmten Aggressionen?

Bei vielen Usern hat man es mit Leuten zu tun, die einst die Plattformen mit dem Optimismus betreten haben, dass sie sich hier mit anderen verbinden können. Die Hoffnung war, sich mit anderen einschwingen zu können, in sich selbst öffentlich hineinhorchen und lauter empfindsame Kleinigkeiten aus dem eigenen Leben mitteilen zu können – ein verstimmendes Ereignis hier, ein beglückendes Blümchen dort, einen selbst verlegten Sammelband mit Befindlichkeitstexten obendrauf. Einander zu liken und kommentieren, das hieß: dass man sich Trost zuspricht, sich unterstützt und sich ermutigt, feinfühlig und offenherzig zu sein.

Doch jetzt, wo das soziale Klima in den Feeds in ungeahnte Tiefen abrutscht, bekommen die Achtsamen den Kanal nicht mehr schnell genug zu. Sie kriegen die Filter nicht mehr fein genug gestellt. Und so rudern sie, mittendrin in den Shitstorms, die Achtsamen, wie Opfer, wie Irre, die mit weit aufgerissenen Augen und Ohren auf hochempfindlichster Wahrnehmungsstufe völlig ungeschützt erleben müssen, wie viel Unempfindlichkeiten da zirkulieren. Alles prasselt auf sie ein, und sie wehren sich gegen das Schlimme, indem sie das Schlimme vermehren.

“Achtsamkeit hat mich radikalisiert.” Das dürfte der Leitspruch vieler armer Twitter-Seelen sein. Auf immer schrillere Weise teilen auch die Instagrammer Achtsamkeitsmeldungen. Alle sollen wissen, wie sie Müll vermeiden, was sie sich zum Frühstück machen, wie sie sich Energie und Mut zusprechen, wie viele Kalender, Journale, Planer und Ausmalbücher sie zur fortgesetzten Selbstüberwachung und Selbsteinschätzung führen und wie sie und wann sie und warum sie beschlossen haben, mit sich und der Welt um sie herum noch achtsamer umzugehen. Das richtige Leben im falschen. Sie kennen es, sie wollen es, sie teilen es den anderen mit. Immer wieder. Achtsamkeitsdarsteller ist längst ein Beruf. Achtsamkeitspraktikant auch. Allerdings unbezahlt.

Mit Verzweiflung posten sie Ratgeber für Verzweifelte. Sie halten sich vor ihren Kameras an ihren Babys fest, die sie zu Werbezwecken mit Achtsamkeitsmarkenkleidung ausstatten und in Achtsamkeitskinderwagen fahren, um darunterzuschreiben, dass sie achtsam, geborgen und minimal zufrieden sind. Bis zum nächsten Bild. Wer seine Achtsamkeit nicht mitteilt, wer anderen die fehlende Aufmerksamkeit nicht dauernd vorhält, läuft vor allem vor sich selbst Gefahr, als unachtsam zu gelten.

Am traurigsten sind deshalb jene Gestalten, die immer wieder posten “Hallo, ich höre bei Facebook auf!”, “Mimimi, Twitter gibt mir nichts mehr!”, “Töröö, ihr findet mich jetzt auf dieser Plattform oder jener Insel der Seligen!”. Ach je, und morgen sind sie dann wieder da und jammern weiter. Es gibt ja kein Draußen. Wenn man erst mal achtsam ist, dann ist man sowieso immer mittendrin.

Natürlich gibt es da den Reflex, sich die gute alte Zeit zurückzuwünschen. Wie schön war es, als man alles ein, zwei Empfindlichkeitsstufen tiefer erlebt hat, weil von Achtsamkeit noch gar nicht die Rede war.

War das nicht wunderbar, als man, sagen wir, noch siebensam war? Oder wenigstens siebenkommafünfsam? Selbst die Siebenkommasechssamkeit war ja traumhaft! Weil einem vieles von dem, was heute sofort schwerwiegende Hass- und Herzattacken auslöst, einfach herzlich egal war. Schniezpurps war es. Schnuppe. Wuppe. Wurst.

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