/Onkologie: “Ich verschiebe den Zeitpunkt, aber nicht das Ereignis als solches”

Onkologie: “Ich verschiebe den Zeitpunkt, aber nicht das Ereignis als solches”

Es gibt Bezeichnungen, die man als Journalist nicht verwenden mag, weil sie zu oft benutzt worden sind – aber wie sollte man Professor Michael Hallek anders nennen als einen von Deutschlands “stillen Stars”? Hallek ist kein Prominenter im eigentlichen Sinne, aber fast jeder, der sich mit Krebs befasst, hört oder liest irgendwann einmal von ihm, er gilt als einer der führenden Spezialisten in Deutschland, was diese Volkskrankheit angeht. Hallek ist Leiter der Klinik I für Innere Medizin der Universitätsklinik Köln, viele Menschen suchen seinen Rat.

Wir wollen ihn treffen, weil wir von ihm erfahren möchten, wie es einem Arzt ergeht, der als Onkologe täglich an Krebs erkrankte Patienten behandelt und oft im Grenzland zwischen Leben und Tod arbeitet.

Einen Termin mit Hallek zu vereinbaren war nicht einfach, in seinem Büro hieß es, man müsse wissen, dass es in seinem Klinikalltag häufig zu spontanen Terminänderungen komme. Die Frühjahrstagung der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie in Berlin sei vielleicht eine gute Gelegenheit, hatte man in seinem Büro gesagt, und so findet das Gespräch in einem kleinen Besprechungszimmer des Tagungszentrums statt. Es gibt dann keine Frage, auf die Michael Hallek nicht antwortet, nie wirkt er irritiert oder abwesend. Nicht ein Mal schaut er auf die Uhr. Und auch nach fast zwei Stunden Gespräch wirkt Hallek nicht erschöpft.

ZEITmagazin: Herr Hallek, Onkologie ist ein medizinisches Fach, in dem Arzt und Patienten dem Tod
oft besonders nahe kommen. Warum haben Sie es gewählt?

© Eventpress Stauffenberg/dpa

Michael Hallek: Eigentlich wollte ich Hausarzt werden. Ich stamme aus einer oberschlesischen Kriegsflüchtlingsfamilie ohne höhere Bildung. Meine Eltern haben mir nie Druck gemacht, irgendetwas Besonderes zu werden, aber doch alles ermöglicht. Dass ich Medizin studieren konnte, war für mich nicht unbedingt zu erwarten oder gewöhnlich, sondern eine Riesenchance. Ich wollte die nutzen. Etwas machen, das sinnvoll ist. Am Ende habe ich die Onkologie ausgewählt, weil sie für die Patienten eine so große Bedeutung hat. Und auch, weil mir die Gespräche mit diesen Patienten schon im Studium viel bedeutet haben, mit ihrer besonderen Klarheit und Ernsthaftigkeit.

ZEITmagazin: Über diese Gespräche mit Schwerkranken und Sterbenden wollen wir heute reden. Was
meinen Sie mit Klarheit?

Hallek: Ich muss noch heute oft an einen meiner ersten Patienten denken. Ein alter Bauer aus dem Chiemgau, er hatte einen fortgeschrittenen, metastasierten Krebs. Ich war damals Assistenzarzt in München, am Klinikum rechts der Isar, war etwa 27 Jahre alt und am Anfang meiner Ausbildung. Der Mann spürte, dass ich der Aufgeregtere von uns beiden war. Er erzählte dann von seinem Bauernhof und der Bank vor dem Haus, auf der er so gerne sitze und in die Abendsonne schaue. Und wie schön und friedlich es da sei. Er sagte, ich solle mir doch keine Sorgen machen. Er wisse ohnehin, dass irgendwann der Tod kommt.

ZEITmagazin: Eine Umkehrung? Er war es, der Sie getröstet hat?

Hallek: Das erlebe ich oft, ja. Eine Patientin, der es wirklich schlecht ging, sagte neulich während der Sprechstunde zu mir: “Herr Hallek, ich mache mir Sorgen um Sie, Sie sehen heute nicht gut aus.” Da haben wir beide herzhaft gelacht. Solche Momente gibt es immer wieder. Der Bauer hat mir auf seine Weise zu erkennen gegeben, dass er die Situation vollständig erfasst hat und dass aus seiner Sicht eigentlich gar nichts mehr schieflaufen kann. Dass Menschen zu solcher Größe fähig sind, obwohl sie eigentlich um ihr Leben kämpfen, fand ich damals großartig und finde es immer noch. Ich erinnere mich noch genau an den Namen des Mannes. Die ersten Patienten, die man betreut, die vergisst man nie.

ZEITmagazin: Wie lange hat der Mann noch gelebt?

Hallek: Über ein Jahr. Nach meiner Erinnerung war das deutlich länger, als wir ursprünglich angenommen hatten.

ZEITmagazin: Wenn Patienten zu Ihnen kommen, sind Sie der wichtigste Mensch der Welt für sie: der
potenzielle Retter. Ist das belastend?

Hallek: Diese Rolle empfinde ich nur dann als belastend, wenn ich unter Zeitdruck bin. Sonst habe ich eher das Gefühl, eine privilegierte Tätigkeit auszuüben. Außerdem hat ja nicht jedes Gespräch den Tod als Thema. Viele Patienten sehe ich über Jahre, oft reden wir über die Therapie, über Nebenwirkungen, manchmal auch übers Wetter.

ZEITmagazin: Sprechen Sie mehr oder Ihre Patienten?

Hallek: Neunzig Prozent der Zeit höre ich zu, zehn Prozent der Zeit spreche ich selbst. In Wahrheit habe ich als Arzt doch nur wenige Informationen, die ich wirklich geben muss: So und so wird die Therapie verlaufen, das und das sind die Nebenwirkungen. Mehr nicht. Wichtiger ist, dass die Patienten mir sagen, was sie erhoffen, was sie wollen, wie es ihnen geht. Dafür möchte ich als Arzt den Raum geben.

ZEITmagazin: Wenn die Diagnose “Krebs” gestellt ist – welche Frage haben die Patienten dann am
häufigsten an Sie?

Hallek: Was würden Sie jetzt empfehlen, was soll ich machen? Die zweite: Was kann ich sonst noch tun? Damit zielen die Menschen auf Naturheilverfahren ab, auf Homöopathie, auf komplementäre Verfahren außerhalb der Schulmedizin oder auf ein anderes Verhalten und eine verbesserte Ernährung. Die dritte Frage: Was habe ich falsch gemacht?

ZEITmagazin: Im Film fragen die Menschen als Erstes immer: Wie viel Zeit bleibt mir
noch?

Hallek: In der Wirklichkeit geschieht das nicht so oft. Viele Menschen weichen dieser Frage aus. Die Angst vor der Antwort ist groß.

ZEITmagazin: Alle drei Fragen, die Sie erwähnten, klingen sehr konstruktiv, nach einem starken
Überlebenswillen.

Hallek: Das ist unser evolutionär stärkstes Programm: Weiterleben. In Gesprächen über die eigene Krebserkrankung wird den Patienten die Endlichkeit unmittelbar bewusst, manchen zum ersten Mal im Leben. Die meisten Patienten wollen das Sterben hinauszögern und die Zeit bis dahin so lebenswert wie möglich gestalten.

ZEITmagazin: Hinauszögern klingt so defensiv, so schwach. Ist Ihr Job nicht, den Tod
abzuwenden?

Hallek: Wenn etwas unausweichlich ist, dann der Tod.

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