/Horst Dreier: “Das Grundgesetz hat sehr viel Glück gehabt”

Horst Dreier: “Das Grundgesetz hat sehr viel Glück gehabt”

70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Mauerfall: Wir wollen die historischen Jubiläen dieses Jahres als etwas Zusammenhängendes betrachten. Deshalb starten wir die Serie “Deutschland 70/30”. In diesem Interview spricht der Verfassungsrechtler Horst Dreier das Grundgesetz über die Vor- und Nachteile unseres Grundgesetzes.

ZEIT ONLINE: Herr Professor Dreier, in
diesem Jahr wird das Grundgesetz 70 Jahre alt, und die Verfassung der Weimarer Republik wird 100. Die übliche Einschätzung ist: Das Grundgesetz hat aus den
Fehlern von Weimar gelernt. Stimmt das?

Horst Dreier: Nicht wirklich. Zunächst
einmal, positiv formuliert: Es steckt viel mehr Weimar im Grundgesetz, als man
gemeinhin meint. Schauen wir nur auf die fundamentalen Verfassungsprinzipien: Demokratie,
Rechts- und Sozialstaat, Republik, Föderalismus, all das kannte natürlich
auch Weimar. Artikel 1 der Weimarer Verfassung lautet: “Die Staatsgewalt geht
vom Volke aus.” Im Grundgesetz heißt es fast wortgleich: “Alle Staatsgewalt
geht vom Volke aus.” Das Grundgesetz ist weniger Neuanfang als
Weiterentwicklung dessen, was in der Weimarer Verfassung schon vorhanden war.

ZEIT ONLINE: Trifft es zu, dass die
Grundrechte in Weimar nur Programmsätze waren, bloße Leerformeln, ohne
unmittelbare Wirkung?

Dreier: Nein. Das ist eine
nachträgliche Fiktion der bundesdeutschen Staatsrechtslehre. Die klassisch-liberalen
Grundrechte, die wir im Grundgesetz haben, galten auch schon in der Weimarer
Verfassung
mit aktueller, unmittelbarer Wirkung. Nur wird das auch heute immer
noch nicht überall zur Kenntnis genommen. Weil es nicht in die Schablone passt:
Weimar war fehlerhaft, das waren vierzehn verlorene Jahre, das Grundgesetz
macht alles besser. 

Nein, es lag nicht an Konstruktionsfehlern

ZEIT ONLINE: Was unterscheidet das
Grundgesetz von der Weimarer Verfassung?

Dreier: Der größte Unterschied
besteht darin, dass von einem semi-präsidentiellen System auf ein rein
parlamentarisches Regierungssystem umgestellt wurde.

ZEIT ONLINE: Wie war die Verfassung von
Weimar angelegt?

Dreier: Die Weimarer Verfassung basiert auf einem klug
austarierten Gleichgewichtssystem zwischen Präsident und Parlament, jedenfalls
wenn man sich das Normengerüst anschaut: Der Reichspräsident kann den Reichstag
auflösen, umgekehrt kann der Reichstag ein Verfahren zu dessen Absetzung
einleiten. Der Reichspräsident kann Notverordnungen erlassen, der Reichstag
kann sie mit Mehrheit wieder aufheben. Der Reichspräsident ernennt den
Reichskanzler, der aber das Vertrauen des Reichstags benötigt. Die Konstruktion
ist gut durchdacht. Bei einem entscheidungsunwilligen oder -unfähigen Parlament
kann der Reichspräsident die Zügel in die Hand nehmen. Zeigt dieser autoritäre
Tendenzen, dann kann das Parlament sagen, stopp, da machen wir nicht mit –
vorausgesetzt, die demokratischen Parteien sind in der Mehrheit.

ZEIT ONLINE: Üblicherweise wird
argumentiert, die Weimarer Verfassung sei an ihren Konstruktionsfehlern
gescheitert.

Dreier: Nein, es hat nicht an vermeintlichen
Konstruktionsfehlern gelegen. Das Weimarer Regierungssystem ist weltweit und
europaweit verbreitet, etwa in Österreich, Frankreich oder Portugal. Was bei uns als Fehlkonstruktion
gilt, funktioniert andernorts seit Jahrzehnten reibungslos.

Die Macht hat sich auf den Kanzler verlagert

ZEIT ONLINE: Das Grundgesetz geht einen
anderen Weg.

Dreier: Ja, der Bundeskanzler ist
heute viel stärker, als es der Reichskanzler in Weimar je war. Die Macht hat
sich vom Reichspräsidenten verlagert auf den Bundeskanzler. Mit einer Ausnahme
allerdings.

ZEIT ONLINE: Nämlich?

Dreier: Die Notstandsrechte. Über
die verfügte in Weimar der Reichspräsident, und beide Amtsinhaber, Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg, haben davon reichlich Gebrauch gemacht – der
eine zur Stabilisierung der Republik, der andere zu ihrer Aushöhlung.

ZEIT ONLINE: Und im Grundgesetz?

Dreier: Das kannte zunächst gar
keine Regeln für den Notstand. Die Bundesrepublik war ja anfangs nicht
souverän, sondern von den Alliierten besetzt. Hätte es irgendwann Putschversuche
gegeben oder bewaffnete Aufstände, dann wären die Briten und Amerikaner aus den
Kasernen gekommen und hätten das militärisch niedergeschlagen. Erst 1968 wurde
eine detailreiche Notstandsverfassung in das Grundgesetz eingefügt. Deren
Praxistauglichkeit bezweifeln viele – ich auch.

ZEIT ONLINE: War Weimar wehrlos gegen die
Feinde der Republik, wie häufig behauptet wird?

Dreier: Keineswegs. Es gab viele
Republikschutzgesetze, zum Teil waren die schärfer als die der Bundesrepublik.
Nein, das ist auch nur so eine gedankenlose Formel, die Verfassung sei wehrlos gewesen.
Es fehlte am einheitlichen politischen Willen zur Durchsetzung. Rechte
Landesregierungen unterliefen die Verbote gegen rechte Vereinigungen und
umgekehrt.

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