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Grundgesetz: Siebzig Jahre Streit

Wenige Monate nach dem Fall der Mauer mussten viele DDR-Bürgerrechtler –
aber auch einige Westdeutsche – einen großen Traum begraben. Die neu gewählte Volkskammer
lehnte es im April 1990 ab, den vom Runden Tisch, einer Versammlung aller wichtigen Parteien
und Bürgerrechtsorganisationen, ausgearbeiteten “Entwurf für eine Verfassung der DDR” auch nur
zu beraten. Die Mehrheit der ostdeutschen Abgeordneten wünschte keine eigene Verfassung der
DDR – und ebenso wenig eine neue gesamtdeutsche Verfassung. Sie wollte, so wie es ein knappes
halbes Jahr später auch geschah, die Wiedervereinigung unter dem Dach des westdeutschen
Grundgesetzes.

Die Befürworter einer neuen Verfassung hatten gehofft, dadurch der bloßen Anpassung an den Westen entgehen und ein Stück eigener Geschichte und Identität in die neue Gemeinsamkeit hinüberretten zu können. Und manche Westdeutsche hatten darauf spekuliert, nun endlich nachholen zu können, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes ihrer Meinung nach 1949 versäumt hatten, zum Beispiel die Aufnahme sozialer Rechte ins Grundgesetz.

In der Tat griff der Entwurf des Runden Tisches Forderungen auf, die auch in der alten Bundesrepublik seit Langem erhoben wurden, vor allem von Linken und Linksliberalen: ein Recht auf Arbeit, auf Wohnen und Bildung, ein eigenes Grundrecht für Kinder und das Recht der Frauen auf “selbstbestimmte Schwangerschaft”, der Schutz der Umwelt, ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Orientierung und die Einführung von Plebisziten.

Doch über eine neue Verfassung stritten fast nur Akademiker, die breite Öffentlichkeit zeigte wenig Interesse. Im Westen herrschte zudem die nicht völlig von der Hand zu weisende Angst, eine neue Verfassung könnte den Deutschen am Ende weniger Freiheiten gewähren als das alte Grundgesetz.

Denn es war keineswegs sicher, dass die Vorschläge des Runden Tisches eine parlamentarische Mehrheit finden und die Menschenrechts- und Demokratiegarantien des alten Grundgesetzes uneingeschränkt in eine neue Verfassung übernommen werden würden. Im Gegenteil, es gab gewichtige konservative Stimmen, die bei dieser Gelegenheit etwa das Grundrecht auf Asyl streichen wollten und denen das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Unantastbarkeit der Menschenwürde und zur europäischen Integration zu weit ging. Manche haderten auch mit dem ausnahmslosen Verbot der Todesstrafe.

Der besondere Wert des Grundgesetzes von 1949 liegt darin, dass es den Menschen, seine Würde und seine Freiheiten in den Mittelpunkt stellt und für eine offene Staatlichkeit eintritt. Obgleich die Wiederherstellung der deutschen Einheit in den Jahren der Teilung oberster Auftrag blieb und alles staatliche Handeln auf dieses Ziel ausgerichtet sein musste, erlaubte das Grundgesetz die politische und militärische Westbindung. Es ermöglichte der Bonner Republik, Hoheitsrechte zu übertragen und der EU beizutreten. Denn gemäß der Grundgesetzpräambel von 1949 war die Bundesrepublik verpflichtet, “als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen”.

Hoch anzurechnen ist es den Vätern und Müttern des Grundgesetzes ebenso, dass sie keine unerfüllbaren sozialen Versprechungen machten und die Verfassung darum bislang im Großen und Ganzen hielt, was sie verkündet. Das Grundgesetz schuf Vertrauen, das war und bleibt ein großer Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung von 1919 und zu vielen modernen Verfassungen der vergangenen Jahrzehnte.

Im Vergleich zur neuen südafrikanischen Verfassung von 1996 zum Beispiel, bei deren Ausarbeitung mehrere deutsche Staatsrechtslehrer Pate standen und die hierzulande manche Neider fand, fallen die Verheißungen des Grundgesetzes geradezu sparsam aus. Die Liste der südafrikanischen Ankündigungen ist lang und reicht vom Recht auf ein Dach über dem Kopf über faire Arbeitsverhältnisse und medizinische Versorgung bis zum Recht auf Bildung, auf Nahrung und auf Zugang zu Wasser und Elektrizität. Gleichwohl ist Südafrika ein knappes Vierteljahrhundert später immer noch ein Land, in dem ein gewaltiges Ausmaß an Ungleichheit herrscht. Die Verfassung hat daran so gut wie nichts geändert.

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