/70 Jahre BRD: Einigkeit und Recht und Helmut

70 Jahre BRD: Einigkeit und Recht und Helmut

Helmut Loewenstein kam auf die Welt, weil sein großer Bruder
gestorben war. Ein Bruder, den er nie kennen gelernt, von dem seine Mutter aber
immer erzählt hat. Acht Jahre war dieser Bruder alt, als er an einer
Hirnhautentzündung starb. Die Mutter hatte ihn durch die schwere Zeit gebracht,
alleine, der Vater im Krieg. Nur um dann hilflos zusehen zu müssen, wie sein
Kinderkörper glühte und ihm alles weh tat. An Penicillin war für eine Bauers-
und Handwerkerfamilie aus Hude bei Bremen im Jahr 1946 kein Rankommen.

Weil der Bruder starb und es die Mutter, die immerhin schon
knapp 40 Jahre alt war, innerlich zerriss, traten zwei neue Loewensteins an
seine Stelle: der Ältere schon 1947 und der jüngere, Helmut, dann 1949. “Wir
musste einfach noch auf die Welt kommen, waren ihre Wunschkinder, ihre Heilung,
so hat es uns unsere Tante erzählt”, sagt Helmut an einem Mittwoch im April fast
sieben Jahrzehnte später.

Die beiden Brüder fingen zusammen Aale am kleinen Fluss vor
dem Hof, einem Bauernhaus mit moosbewachsenem Reetdach, darin auch die
Stellmacherwerkstatt des Vaters, der kurz nach Kriegsende nach Hause gekommen
war. Und die beiden Brüder kloppten sich, bis sie bluteten, bis die Nase brach
oder die Hand, da gab es kein Pardon. War ja auch nicht schwer, den Helmut in
Rage zu kriegen. Wegen seiner Segelohren und was dem Älteren sonst so einfiel.
Denn Helmut war einer, bei dem die Gefühle ganz dicht unter der Oberfläche
lagen.

Helmut Loewenstein im Esszimmer bei Brot und Käseplatte
© Maria Sturm für ZEIT ONLINE

Heute wirkt Helmut ruhig, auf den ersten Blick, wie er da
sitzt, an seinem Tisch, in seinem Esszimmer, in der Ecke der Kachelofen,
beheizt mit Holz aus dem eigenen Wald, selbst gespalten und gestapelt. Aber wenn er redet, reden seine Hände mit. Helmut, klein,
schmächtig, ergrautes Haar, die Augen liegen gut geschützt in tiefen
Augenhöhlen. Wenn er lacht, spannt sich ein feines Faltennetz über sein
Gesicht. Und er lacht viel, wenn er erzählt, wie alles war, wie alles ist.

Heute, sagt er, muss er nicht mehr mit Türen schmeißen, wenn
er wütend ist. Doch bis es soweit war, hat er sich mit allen angelegt, mit der
Schwiegermutter, der Ehefrau, den Vorgesetzten, Kollegen auf der Arbeit und bei
der Feuerwehr. Es musste, wie man so schön sagt, ein Leben ins Land gehen.

Dieses Leben beginnt am 23. Mai 1949, so steht es auf seinem
Ausweis, den Helmut Loewenstein gleich zu Beginn des Gesprächs auf die blütenweiße
und mit Blumen dekorierte Tischdecke legt. “So, bitte schön, damit auch alles
seine Ordnung hat.”

Ordnung ist wichtig in diesem Haus, das Holz liegt sauber
und ordentlich unter dem Dach der Garage, die Tassen stehen sauber und
ordentlich im Schrank, nur die Tapete ist etwas dunkel, vom Ofenrauch, aber
deswegen wird das Esszimmer ja gestrichen, in dieser Woche noch.

Und auch das Datum ist wichtig: Schließlich ist der 23. Mai
1949 auch der Geburtstag des Landes, in das Helmuts Leben gegangen ist. An diesem
Montag um 17 Uhr unterzeichnete Konrad Adenauer, damals Präsident des
Parlamentarischen Rates, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Die Geburtsstunde von Helmut Loewenstein ist nicht
überliefert. Wie auch? Bei einer Hofgeburt haben Mutter und Hebamme anderes zu
tun, als auf die Uhr zu schauen.

Helmut Loewenstein wusste früh, was er wollte: Geld verdienen, auf eigenen Beinen stehen, seine Mudel heiraten.
© Maria Sturm für ZEIT ONLINE

“Jeder hat das Recht
auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.” Artikel 2, Absatz 1. Lesen
durfte der kleine Helmut, das erlaubten ihm seine Eltern. Doch erst musste
geholfen werden. Kühe hatten sie. Und Enten. Und Hühner. Eine Menge Arbeit, die
vorging. Eier suchen, mit dem Pflug das Feld umgraben, ausmisten und melken. Außer
im Winter immer barfuß über den Hof, immer schön mit den Füßen in den Dreck
rein. Waschen nur an der kalten Pumpe. Nicht schlimm, normal. “Ich bin sicher,
dass wir in der Schule auch mal gestunken haben”, sagt Helmut.

“Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des
Staates.” Artikel 7, Absatz 1. Aber zur Schule musste man erst mal hin! Erst
drei Kilometer in die Grundschule. Dann fünf in die Volksschule. Ob Sommer oder
Winter. Immer mit dem Fahrrad. Helmut trug kurze Hosen und im Winter noch
Kniestrümpfe dazu, die mit Gummibändern an der Hose befestigt waren. So sahen
die Jungs damals aus, lange Hosen waren zu teuer und gingen ständig kaputt.

Nach der Schule dann die Lehre
als Zimmermann. Sein Vater wollte ja, dass er zur Bundesbahn oder ins
Fernmeldeamt geht, Verbeamtung und Ruhe, aber den ganzen Tag am Schreibtisch,
das war Helmut nichts. “Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und
Ausbildungsstätte frei zu wählen.” Artikel 12, Absatz 1. Vor allem aber wollte
er Geld verdienen, auf eigenen Beinen stehen, und heiraten. “Ehe und Familie
stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.” Artikel 6, Absatz
1.

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