/Sylvie Courvoisier: Der avantgardistische Lockenkopf spielt noch immer dort

Sylvie Courvoisier: Der avantgardistische Lockenkopf spielt noch immer dort

Zum sechsten Mal spielt die Pianistin Sylvie Courvoisier an diesem
Donnerstag beim Schaffhauser Jazzfestival, weshalb man sagen könnte: Na und? Was ist da das
Besondere?

Das Besondere liegt in der Zeitspanne. Ihren ersten Auftritt in Schaffhausen hatte sie 1996, vor 23 Jahren. Damals stellte sich eine junge Frau aus Lausanne vor, die in der deutschsprachigen Schweiz niemand kannte. Ihr Lockenhaar verschwand im Korpus ihres Instruments, während der eine Mann an ihrer Seite Luft in die Tuba stieß und der andere an einer Drehorgel kurbelte, die selbst gestanzte Lochkarten fraß. Ocre hieß das Trio, welch ein Einstand!

Das Programmheft würdigte die erst 27-jährige Avantgardistin damals als “ein überragendes Talent” und sagte ihr eine große Zukunft voraus: “Ihre pianistischen und kompositorischen Fähigkeiten entwickelt sie mit einer geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit – ihren Werdegang zu verfolgen ist ein spannendes und faszinierendes Unterfangen.”

Nun sind Prognosen immer so eine Sache. In diesem Fall sind sie eingetroffen, und tatsächlich hat das Publikum in Schaffhausen das Wachsen der Pianistin Schritt für Schritt begleiten können, weil sie in wechselnden Besetzungen immer wiedergekommen ist. Der Umzug nach New York, das Eintauchen in die Downtown-Szene, die Heirat mit dem Jazzviolinisten Mark Feldman, jetzt ihr Klaviertrio …

Zu Hause in Brooklyn ist sie selten anzutreffen, da ständig unterwegs mit einer Vielzahl von Musikern. Mal spielt sie in der Tokioter Oper, mal im Walker Art Center in Minneapolis, mal in der Elbphilharmonie oder – auch in Hamburg – in einem Hörsaal des Teilchenbeschleunigers Desy.

Mit 50 ist Sylvie Courvoisier eine Musikerin, wie sie schwungvoller nicht sein könnte. Sie beschleunigt die Teilchen und sich selbst auf ihren unermüdlichen Reisen um die Welt, unterbrochen von gelegentlichen Zwischenstopps in ihrer Heimatstadt. Sie versprüht Swing und Twist und Witz. Sie liebt Improvisation und Präzision gleichermaßen. Vor der Tradition verbeugt sie sich – bis hin zum Boogie Woogie, den ihr Vater, der Amateur, so gerne spielt.

Ihre Platten erscheinen bei verschiedenen Firmen, auch bei Intakt, dem Zürcher Label, das keine Scheu vor komplexen Klängen hat und sich damit eine herausragende Position in Europa erarbeitet hat.

Gleiches gilt für Schaffhausen. Das Festival, gegründet von ein paar einheimischen Enthusiasten, finanziell unterstützt von Stadt und Kanton, ist über die Jahrzehnte hinweg zu einem musikalischen Gravitationszentrum geworden, dessen Anziehungskraft bis in die Nachbarländer reicht. Wer sich über das Jazzgeschehen in der Schweiz informieren will, kommt an dieser nationalen Werkschau nicht vorbei.

Hier konnte man früh die hypnotischen Repetitionen des Zen-Funk-Pianisten Nik Bärtsch entdecken oder den dadaistischen Popjazz des Trios Rusconi, hier verströmte der Tastenmann Colin Vallon seine subtilen Wellen, hier zeigte Julian Sartorius, dass Schlagzeugspielen eine Frage übermenschlicher Feinmechanik sein kann.

Kritiker und Zuschauer reisen von weither an, um solche Musik zu erleben und sich untereinander auszutauschen über das Gehörte. Stadt und Bühne und Beiz verschmelzen zu einem tage- und nächtelangen Genussdiskurs, in dem gepriesen und auch heftig gejammert wird: dass früher doch alles (noch?) besser war.

In dieser Woche findet das Jazzfestival nun zum dreißigsten Mal statt. Das Programm ist dem Anlass gemäß aufgeladen mit Besonderem. Es gibt einen tönenden Umzug von der Kammgarnfabrik als angestammter Spielstätte in das Schaffhauser Münster, dessen “Ecken, Bögen, Winkel und Fenster die Musik unterschiedlich reflektieren”, wie es im Programmheft heißt. So kommen die Klänge der Baumwollfelder schließlich an im größten romanischen Sakralbau der Schweiz. Sieben Sekunden Nachhall geben jedem Ton hinreichend Gelegenheit, gehört zu werden.

Auch ohne so ein Spektakel wäre Schaffhausen ein Musterbeispiel dafür, was Kultur in der
Provinz bewirken kann, wenn sie mit Idee und Standvermögen betrieben wird statt mit PR-Kalkül.

Sylvie Courvoisier Trio: D’Agala (Intakt)
Das 30. Schaffhauser Jazzfestival findet statt vom 22. bis 25. Mai.

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