/Shermin Langhoff: “Ich bin ein Angriffsziel”

Shermin Langhoff: “Ich bin ein Angriffsziel”

DIE ZEIT:
Fast 80 Prozent der Deutschen sehnen sich laut der Vermächtnis-Studie nach einem
Wir-Gefühl. Teilen Sie diese Sehnsucht?

Shermin Langhoff:
Die Frage, die uns am Gorki Theater von Anfang an umtreibt, ist: Wer ist Wir? Es gibt viele
Wirs. Und wer erzählt hier Geschichten für wen? Wir arbeiten also die ganze Zeit an einem
Wir, an einem imaginären vielleicht. In unserem Fall ist das Wir eines von allen, die in
diesem Land leben. Und vor allem von denen, die in Berlin leben. Wir sind ein Stadttheater.
Und in dieser Stadt leben heute Menschen mit mindestens 170 nationalen Hintergründen.

ZEIT:
Zu Beginn haben Sie und das Gorki Theater, das Sie seit 2013 leiten, sich als
“postmigrantisches Theater” verortet. Das ist ein spezielles Wir.

Langhoff:
Nein. Postmigrantisch meint nichts anderes als die Gesellschaft, die wir durch Migration
heute geworden sind. Das umfasst eben nicht nur die Migranten. Wir sind eine
Einwanderergesellschaft. Eine Tatsache, die sich bis heute nicht in den Gesetzen dieses
Landes widerspiegelt. Wir haben bis heute kein Einwanderungsgesetz, das diesen Namen
verdient. Als ich anfing, fehlten in unserer postmigrantischen Gesellschaft die Geschichten
der Hinzugekommenen, die sind nicht erzählt worden, weder in der Schule noch im Theater, ein
bisschen im Film. Mittlerweile kann eine Frau wie ich mit türkischer Herkunft
Theaterintendantin werden, doch meine Mutter, die viele Jahre hier gelebt und Steuern
gezahlt hat, hat noch nicht einmal das kommunale Wahlrecht.

ZEIT:
Im Prinzip versuchen Sie mit Ihrem multiethnischen Ensemble und den politischen Stücken am
Maxim Gorki Theater ein neues Wir zu kreieren?

Langhoff:
Absolut richtig. Aber dieses Wir ist nicht feststehend. Wir müssen jeden Tag neu darüber
verhandeln, wer dieses Wir ist. Als ich vor 15 Jahren mit Begriffen wie postmigrantisch
hantierte, wurde ich eher belächelt. Ich wurde gefragt: Politisches Theater, was soll das
sein? Es erschien nicht notwendig. Dass die anderen, die Migranten, sichtbar werden, erleben
wir erst seit etwa einer Dekade, und schon wird behauptet, progressive Minderheitspolitiken
wären das Problem. Dabei stellen wir keine andere als die soziale Frage, wenn wir über
strukturellen Rassismus und Sexismus in dieser Gesellschaft reden. Dass Zugänge verwehrt
sind, nicht nur wenn es darum geht, eine Wohnung und Arbeit zu finden, sondern auch in der
Politik. Wir erleben gerade, wie hierzulande diskutiert wird, ob mehr als fünf Millionen
Musliminnen und Muslime, die hier leben, dazugehören oder nicht.

ZEIT:
Sie sind mit neun von den Großeltern aus der Türkei zu Ihrer Mutter nach Nürnberg gekommen,
die bei AEG arbeitete. Nun wurde das Gorki zweimal Theater des Jahres, Sie tragen das
Bundesverdienstkreuz. Fühlen Sie sich diesem Land zugehörig?


Langhoff:
Ich spreche aus der Perspektive einer Deutschen, die in Deutschland lebt, die eine Bürgerin
mit ein paar Auszeichnungen ist und eine öffentlich finanzierte Institution führt. Dann bin
ich auch Berlinerin, alleinerziehende Mutter und Gastarbeiterkind und vieles mehr. So setzen
sich meine Identitäten und meine Zugehörigkeiten zu den verschiedenen Wirs in einer
heterogenen Gesellschaft zusammen. Eine nationale Identität dagegen ist nur eine politische
Konstruktion. Natürlich spielt die Geschichte eines Landes eine Rolle. Für uns, die wir
Geschichten erzählen, sogar eine sehr große. Das ist das, was mir ein Wir in Deutschland
immer sehr leicht gemacht hat. Nach 1945 gab es bis vor wenigen Jahren in der deutschen
Kulturlandschaft eine Übereinkunft, einen unter dem Schlagwort “Nie wieder!” gefassten
Konsens.

ZEIT:
Woran bemerken Sie, dass sich etwas verändert? Der kulturpolitische Sprecher der AfD im
Bundestag, Marc Jongen
, hat gesagt, das politische Theater arbeite sich dauernd “an diesen
zwölf Jahren des ‘Dritten Reiches'” ab, es wirke manipulativ. Deshalb will die AfD Theatern
wie dem Gorki die Gelder kürzen.

Langhoff:
Da hat sich ganz klar etwas verändert. Gefahr besteht nicht so sehr für das Gorki in
Berlin. Aber in manchen Bundesländern scheinen die Regierenden nicht mehr zu wissen, was die
Kernbereiche der Grundrechte sind. Etwa der Justizminister von Thüringen, der rechtfertigte,
dass ein Künstlerkollektiv, das Zentrum für Politische Schönheit, über anderthalb Jahre von
einem AfD-nahen Staatsanwalt verfolgt wurde. Gegen die Künstlergruppe wurde wegen der
Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Dieser Staatsanwalt wurde bis dato nicht
suspendiert.

ZEIT:
Erleben Sie Angriffe auf das Gorki Theater?

Langhoff:
Ja. Störungen, Hassmails, Infragestellungen unseres Etats sind an der Tagesordnung. Es gibt
aber auch konkrete Morddrohungen vom “NSU 2.0 – Vergeltungskommando” gegen die
“Türkenfotze”. Es gibt viele kleine parlamentarische Anfragen zu Projekten von uns, zu
meinem Vertrag oder anderem. Es ist ja erst mal das Recht des Parlaments, nur sind das
Anfragen, die weder sachlich noch begründet sind. Aber sie beschäftigen den Apparat. Dabei
sind wir in Berlin in der komfortablen Situation, dass wir keine Koalitionen mit der AfD
fürchten müssen. Es gibt andere Beispiele.

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