/Peer Steinbrück: “Auch wir haben uns vom Zeitgeist infizieren lassen”

Peer Steinbrück: “Auch wir haben uns vom Zeitgeist infizieren lassen”

DIE ZEIT:
Herr Steinbrück, wir wollen mit Ihnen über Gerechtigkeit sprechen. Geht es in Deutschland
gerecht zu?

Peer Steinbrück:
Der Sozialstaat funktioniert weitgehend, aber wenn ich mir die Verteilung der Einkommen,
vor allem jedoch der Vermögen anschaue, dann sage ich: Nein. Nach letzten Zahlen der
Bundesbank besitzen die reichsten zehn Prozent der Deutschen etwa 55 Prozent des privaten
Nettovermögens. Ich finde es erstaunlich, wie diese Entwicklung verdrängt wird.

ZEIT:
Woran machen Sie das fest?

Steinbrück:
Ich kann keine unaufgeregte Debatte darüber erkennen, was diese Drift für den Zusammenhalt
der Gesellschaft bedeutet.

ZEIT:
Warum ist das so?

Steinbrück:
Weil wir einseitig diskutieren. Zentral ist, dass nur verteilt werden kann, was vorher
erwirtschaftet worden ist. Aber die Vernachlässigung der Verteilungsseite halte ich für
gefährlich. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat am Beispiel der USA schon im
Jahr 2012 unter der Überschrift “Der Preis der Ungleichheit” davor gewarnt, dass der
wachsende Unterschied zwischen Arm und Reich eine Gesellschaft zu spalten droht.

ZEIT:
Warum macht Ihre Partei, die SPD, das nicht stärker zum Thema?

Steinbrück:
Es hat einmal einen SPD-Kanzlerkandidaten gegeben, der mit dem Vorschlag einer
Vermögensteuer angetreten ist.

ZEIT:
War das nicht dieser Peer Steinbrück?

Steinbrück:
Und er hat gerade einmal 25,7 Prozent der Stimmen bekommen.

ZEIT:
Wenn das Thema so wichtig ist – warum hat man damit so wenig Erfolg?

Steinbrück:
Weil das Verhetzungspotenzial so hoch ist. Dem leisten orthodoxe Ideen aus der linken Ecke
Vorschub. Die gesellschaftlichen Fliehkräfte, die diese Entwicklung freisetzt, werden
allerdings im bürgerlichen Lager unterschätzt.

ZEIT:
Das sagt auch Kevin Kühnert.

Steinbrück: Kühnert hat zwar einen Nerv getroffen, wie man an den teils aberwitzigen Reaktionen ablesen
kann. Die laufen im Übrigen auf Denkverbote hinaus. Aber hinter seinem Voodoo-Sozialismus
verblasst das eigentliche Problem. Der Kern ist, dass immer mehr Bereiche unserer Lebens-
und Arbeitswelt – einschließlich der Natur – Renditekalkülen unterworfen werden und die
Gesellschaft darüber sozial und kulturell auseinanderdriftet.

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