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Großbritannien : Brexit unplugged

Dieser Artikel ist Teil unserer Serie “Die neuen Europäer”. Wir besuchen aus Anlass der Europawahl Menschen, die nicht von Europa träumen, sondern europäisch leben. Wir erzählen von neuen Konflikten und Glücksmomenten, die es ohne die EU nicht gäbe.

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Jane: Als ich damals ins Bett gegangen bin, habe ich mir den Brexit gewünscht.

Richard: Ich habe mich erst fast in letzter Sekunde für leave entschieden.

Michael: Unglaublich, was sich die Regierung da leistet. 

Jane: Wir wollen doch nur raus.

Es ist kurz vor 20 Uhr im englischen Maidenhead. Jane, Richard und Michael sitzen an einem langen eckigen Esstisch. Von den Herdplatten strömt der Duft von indischem Curry in den Raum. An der Wand im Hintergrund flimmern die Nachrichten des Tages über den Küchenfernseher. Theresa May, die britische Premierministerin, hat es an diesem Montag wieder nicht geschafft, das Parlament von ihrem Brexit-Plan zu überzeugen. Jane, Richard und Michael haben Hunger und sich zu einem journalistischen Experiment bereit erklärt.

Die drei Briten, die man am ehesten zur gehobenen Mittelschicht zählen könnte, wollen über den Brexit reden, obwohl sie am 23. Juni 2016 unterschiedlich abgestimmt haben. Einzige Bedingung ihrerseits für das Tischgespräch: keine Nachnamen, keine Fotos. Sie befürchten sonst soziale und wirtschaftliche Nachteile für sich.

Die Aussagen von Jane, Richard und Michael bilden ihre Realität ab, nicht mehr und nicht weniger. Sie sind nicht repräsentativ, sondern so direkt und politisch unkorrekt, wie sicher viele der täglichen Gespräche über den Brexit. Der Reporter setzt sich mit Aufnahmegerät und Notizblock an den Tisch und hört zu.

Jane: Ich will raus, weil die EU nicht mehr das ist, was sie mal sein sollte. Anfangs ging es nur um einen gemeinsamen Markt. Aber die EU-Kommission will jetzt einen föderalen Staat wie die Vereinigten Staaten von Amerika. In diesem Staat soll der Kommissionspräsident ein König sein, der nicht einmal gewählt wurde. Alle anderen müssen dann tun, was er möchte.

Michael: Es gibt bei uns eine Menge Falschinformationen in Bezug auf die EU.

Jane: Theresa May hat einen Job angenommen, den niemand wollte. Sie ist mutig. Aber ist sie die Richtige für dieses Amt? Von Anfang an hatten es alle nur auf sie abgesehen. Und eigentlich ist sie ja auch ein remainer.

Michael: Hmm.

Richard: Ist alles sehr kompliziert.

Maidenhead zählt etwa 70.000 Einwohnerinnen und Einwohner und liegt knapp eine Stunde westlich von London in keiner besonders armen Gegend. Es gibt eine Flugschule, einen Judoclub und einen Bowls-Verein. Die Straßen haben keine Schlaglöcher. Und vor dem Kreisverkehr im Stadtzentrum warnen elektronische Anzeigetafeln die Autofahrerinnen: “Think bike! Look twice!” Seit 1997 gehört die Stadt zum Wahlkreis von Theresa May. Sie wohnt ein paar Dörfer weiter mit ihrem Mann. Jane, Richard und Michael kommen nicht aus der Region, arbeiten aber regelmäßig hier. Richard ist Tischler, Jane und Michael sind IT-Fachkräfte. Alle drei übernachten unter der Woche oft im Bakehouse, einer Pension in einem ruhigen Wohnviertel Maidenheads. Der Besitzer Laurent ist Franzose, er mag die Beschaulichkeit in seiner Wahlheimat. Abends bekocht er seine Gäste.

Jane: Die EU wäre ok, wenn die Länder alle gleich wären. Aber wir im Vereinten Königreich arbeiten viele Stunden am Tag für unseren Erfolg. Auf der anderen Seite gibt es Griechenland oder andere solche Länder. Wenn die sich danach fühlen, machen die Siesta – mitten am Tag. Statt hart zu arbeiten, gehen die einfach mit ihrem Klingelbeutel zur EU und sagen: Großbritannien geht’s so gut, können wir mehr Geld haben? Je erfolgreicher ein Land in der EU ist, desto mehr Geld muss es in den EU-Topf schmeißen. So läuft es doch.

Michael: Ist das nicht mit allem so? Wenn du in deinem Job gut bist und mehr Geld bekommst, zahlst du auch mehr Steuern. Ich zahle in einen Steuertopf, daraus bekommen viele Fremde im ganzen Land etwas ab.

Jane: Aber das zahlst du für dich und deinesgleichen, quasi für deine Familie.

Am Tisch herrscht kurz Stille. Laurent, der Gastgeber, fragt, wer alles einen Karottenkuchen zum Nachtisch möchte. Jane lehnt ab. Sie wurde im Jahr 1962 geboren, hat zwei Kinder und wohnt eigentlich in einer Grafschaft an der englischen Ostküste. Sie hat vor knapp drei Jahren beim Brexit-Referendum für “leave” gestimmt.

Michael sitzt Jane gegenüber. Die beiden kennen sich, wenn auch nicht sehr gut. Der IT-Experte ist Jahrgang 1951, er kommt aus Cambridge im Norden Londons. Auch er hat zwei Kinder. Ein Sohn arbeitet als Journalist, der andere in der Wissenschaft. Michael glaubt, wenn Großbritannien nicht mehr zur EU gehört, wäre das für die Zukunft seiner Kinder schlecht. Er hat für einen Verbleib in der EU gestimmt.

Richard, geboren 1971, ist der Jüngste in der Runde. Der Tischler sitzt schräg zwischen Jane und Richard. Er kommt aus Leicester, etwa zwei Stunden nördlich von Maidenhead. Im Juni 2016 wählte Richard “leave”. Jetzt würde er vielleicht seine Meinung ändern.

Laurent steht vor dem Esstisch, an dem sich Jane, Richard und Michael für das Brexit-Dinner zur Debatte getroffen haben.

Laurent steht vor dem Esstisch, an dem sich Jane, Richard und Michael für das Brexit-Dinner zur Debatte getroffen haben.
© Steffen Dobbert für ZEIT ONLINE

Jane: Wir arbeiten wie die Tiere und müssen immer mehr Steuern zahlen – nur um denen zu helfen, die keinen Bock auf Arbeit haben. Sie finden es toll, von Sozialleistungen zu leben. Ein vergleichbares Prinzip sehe ich bei einigen EU-Ländern wie Italien oder Griechenland.

Wisst ihr noch, als Irland der EU beigetreten ist? Ich bin damals für zwei Wochen nach Irland gefahren und war überrascht. Die Iren waren so glücklich. Weil sie auf einmal Milliarden über Milliarden von der EU bekamen. Wann bekommen wir mal Geld?

Michael: Wurde Irland nicht ungefähr zur gleichen Zeit EU-Mitglied wie Großbritannien?

Richard: Es müsste Anfang der Siebzigerjahre gewesen sein.

Großbritannien und die Republik Irland, das Nachbarland des Vereinigten Königreiches, traten 1973 der damaligen Europäischen Gemeinschaft bei. Bereits ein Jahr später verhandelte der damalige britische Premier Harold Wilson die Kooperationsbedingungen für sein Land neu. Er erreichte, dass Großbritannien weniger EU-Beiträge zahlen muss. Am 5. Juni 1975 gab es die erste Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Gemeinschaft. 67,2 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten damals dafür.

41 Jahre später, im Juni 2016, folgte die nächste Abstimmung. Dieses Mal stimmte eine knappe Mehrheit (51,9 Prozent) wie Jane und Richard gegen den Verbleib in der EU. Konzerne wie Sony, Panasonic oder Dyson räumten danach ihre Hauptquartiere in England. Honda schließt seine Fabrik in Swindon. Nissan wird die nächste Generation seines wichtigsten Autos nicht mehr in Großbritannien bauen.

Neben der Wirtschaft leidet die britische Politik. Die beiden größten Parteien, Labour und die Konservativen, tragen interne Richtungsstreits aus. Ein Premierminister, zwei Brexit-Minister und mehr als ein Dutzend weitere Regierungsmitglieder sind zurückgetreten. Die sogenannten “remainers” wollen trotz Referendum in der EU bleiben und fordern eine neue Volksabstimmung. Die “leavers”, jene Britinnen, die nicht mehr zur EU gehören wollen, regt das auf. Der britische Historiker Ian Kershaw bezeichnet die Spaltung der britischen Nation als größten Akt nationaler Selbstbeschädigung in der Nachkriegsgeschichte.

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