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Europawahl: Trotz-Wahlkampf

Am
Dienstag muss Irina von Wiese kündigen. Ein Zurück gibt es nicht. Das hat ihr
Arbeitgeber schon gesagt. “Das ist es wert,” sagt die rotblonde Spitzenkandidatin
der Liberalen Partei für das EU-Parlament in London. “Das mache ich für dieses Land und meine
Tochter.”

Für
Irina von Wiese ist Großbritannien seit über zwanzig Jahren Heimat. Sie ist zwar Deutsche, hat in München
Jura studiert und ihre Referendarzeit bei der EU-Kommission verbracht. Auf der
Harvard Kennedy School in Amerika hat sie die Begeisterung für die Politik gepackt.
Aber erst jetzt wechselt die deutsche und englische Anwältin das Metier. “Ich
kann nicht untätig zusehen, was der Brexit mit dem Land macht.” Deshalb kämpft
sie gegen den Brexit und den Populismus auf der Seite der Liberal Democrats.

Seit fünf Wochen
ist Wahlkampf. Das bedeutet für die 41 Jahre alte berufstätige Mutter, schon morgens um 7 Uhr Radio- und
Fernsehinterviews zu geben. Tagsüber ist sie noch Anwältin bei der GSMA,
dem Verband der Mobilfunkanbieter. Ab 18 Uhr abends ist wieder Wahlkampf. Entweder
sie zieht von Tür zu Tür oder sie argumentiert auf Podiumsdiskussionen.

Diesen
Abend in ihrem Wahlkampf ist der Stadtteil Hackney dran. Kaum eine Gegend in
London entspricht mehr der Idee von “Multikulti” als dieses Viertel im Norden der
Metropole. Die Straßen zeigen ein buntes Bild aus den in den Fünfzigerjahren aus der Karibik eingewanderten Menschen, orthodoxen Juden, Muslimen und jungen,
weltoffenen Familien mit Kindern, die für Rassismus und Rechtsaußen-Populismus keinen Sinn haben. Hackney hat 2016 mit 78,5 Prozent für
den Verbleib in der EU gestimmt.

Keine Zeit für stundenlange Überzeugungsarbeit

“Ach, wie nett”, grüßt eine Mutter mit einem Terrier auf dem Arm, als sie Irina von
Wiese die Tür öffnet. “Ja, wir wählen die Liberalen. Alles – bloß keinen Brexit.”  Viel reden braucht von Wiese gar nicht. Der
Tenor an den Haustüren in der Dumont Road ist fast überall der Gleiche. Die
Europakandidatin und ihr Trupp wissen das. Sie haben diese Straßen gezielt
ausgesucht. “Wir haben keine Zeit, an der Tür stundenlange Überzeugungsarbeit
zu leisten”, sagt sie. “Hier geht es darum, EU-Anhänger zur Wahl zu motivieren
und Labour-Wähler von den Liberalen zu überzeugen”. Die Wahlkämpfer wissen aus
dem Wahlregister und Umfragen, ob die Hausbewohnerinnen eher für den Brexit oder für die
EU stimmen. Jedes Türklingeln wird mit einer Datei auf dem Handy abgeglichen.
Hier wird nicht nach Zufall gearbeitet.

Ein
Vater kommt mit seinen Kindern gerade nach Hause. Von Wiese spricht ihn auf der Türschwelle an. Auch er ist zu den Liberalen
übergewandert. “Wir sind 2017 aus der Labour-Partei ausgetreten”, er zögert
etwas und sagt dann: “Mit Corbyn kommen wir einfach nicht
zurecht.” Corbyn verliert Stimmen, weil er eine zweite Volksabstimmung
nicht wirklich verfolgt, immer ambivalent bleibt, um die Brexit- und
EU-Anhänger gleichzeitig zu halten. Hier in dem stark jüdisch geprägten Stadtviertel
spielt zudem der Antisemitismus in
Teilen der Parte
i Corbyns eine Rolle.

Die
Umfragen zeigen den Trend: Die Labour-Partei ist nach der jüngsten Befragung
von YouGov allein in den letzten sechs
Wochen von 24 auf 13 Prozent der Stimmen (ohne unentschlossene Wähler) abgerutscht,
die Liberalen hingegen haben gewonnen, von 8 auf 19 Prozent. Die Konservativen liegen demnach nur noch bei 7 Prozent. Die Brexit Partei hingegen erhält mittlerweile deftige 37 Prozent der Stimmen. Von
Wiese sagt: “Vor einem Jahr wurden wir mitleidig belächelt. Jetzt ist
der Zuspruch enorm.”

Freilich
nicht immer. Ein Mann reißt die Tür auf und bevor von Wiese etwas erklären
kann, wettert er los: “Wir sind Sozialisten. Wir sind Labour. Sie haben uns
verraten. Sie haben die hohen Studiengebühren eingeführt und für den Irak-Krieg
gestimmt. Sie haben hier keine Chance”, und schon fliegt die Tür zu. Die Deutsche
trägt es mit Fassung. “Wir haben zwar nicht für den Irak-Krieg gestimmt – aber
eine Diskussion bringt hier nichts.” Nächste Tür.

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