/Diversität: “Sexualität interessiert alle. Macht was draus!”

Diversität: “Sexualität interessiert alle. Macht was draus!”

Über 20 Prozent ihrer Schülerinnen und Schüler würden sich
nicht als heterosexuell bezeichnen. Das besagt eine Studie, die die Evangelische
Schulstiftung in der Evangelischen Kirche Berlin Brandenburg schlesische
Oberlausitz (EKBO)
zusammen mit der Boston Consulting Group (BCG) an einigen ihrer Schulen durchgeführt hat. Demnach gaben sieben
Prozent der Befragten im Alter zwischen zwölf und 23 Jahren an, sie seien
bisexuell, drei Prozent bezeichneten sich als homosexuell, zwei Prozent als
asexuell. Und sieben Prozent wollten sich gar nicht festlegen. 

Über 20 Prozent? Diese Zahl dürfte
viele überraschen. Ähnlich wie die weiteren Funde der Studie: Schülerinnen und
Schüler, ob sie nun Mädchen oder Jungs oder niemanden anziehend finden, wollen
über Sexualität im Unterricht reden. Über Verhütung, über HIV, über Mobbing und
Vorurteile, über sexuelle Gewalt und über Beziehungen generell. Und das nicht
nur in Bio oder Reli.

Die Überschrift der Studie ist Bunt.Lieben.Leben.
und weil das Bunt gleich am Anfang steht, könnte man denken, den Befragten ginge es vor allem darum, dass man vermeintlich andere nicht ausgrenzen darf. Und auch die Einordnungen in Kategorien der
sexuellen Orientierung lässt vermuten, das Thema seien abweichende Formen von Sexualität. Aber betrachtet man die Ergebnisse so sieht man: Genau diese Einordnung ist überholt. Ob sich Jugendliche nun als heterosexuell oder als bisexuell bezeichnen: Sie wollen alle mehr über Sexualität und alles, was damit zusammen hängt reden.

Nun sind die Ergebnisse der EKBO und BCG nicht repräsentativ. Befragt wurden knapp 500 Schüler ausschließlich in Berlin und Brandenburg. Sie alle gehen auf christliche Privatschulen. Wie aussagekräftig ist so
eine Studie für die eine Brennpunktschule in Offenbach, eine Stadtteilschule in
Hamburg, ein Gymnasium in der bayerischen Provinz?   

Wir haben Schülerinnen, Lehrerinnen und Schulleiter aus verschiedenen Schulen befragt, wie dort mit dem Thema Sexualität und sexuelle Vielfalt umgegangen wird. Und was sie sich wünschen. Hier ihre Antworten.

Willy Hanewald, 18, Abiturientin: “Ich habe mich in meiner Schule nicht geoutet”

Willy Hanewald macht gerade ihr Abitur am Archenhold-Gymansium in Berlin. Sie engagiert sich seit der 10. Klasse an ihrer Schule und ist derzeit Mitglied des Landesschülerausschusses Berlin. Außerhalb der Schule ist sie aktiv bei der Grünen Jugend.

Willy Hanewald macht gerade ihr Abitur am Archenhold-Gymansium in Berlin. Sie engagiert sich seit der 10. Klasse an ihrer Schule und ist derzeit Mitglied des Landesschülerausschusses Berlin. Außerhalb der Schule ist sie aktiv bei der Grünen Jugend.
© Jacobia Dahm für DIE ZEIT und ZEIT ONLINE

Es
ist total normal, wenn Mädchen irgendwann zwischen der achten Klasse und dem
Abitur bisexuelle Erfahrungen machen. Wenn sie mit anderen Mädchen kuscheln
oder knutschen oder was auch immer. Bei Jungs ist das anders. Zumindest nach außen hin. Da bewahrt man sich seine heterosexuelle Männlichkeit. Jungs, würde
ich sagen, fällt es generell erstmal schwerer mit ihrer Sexualität umzugehen.

Als
ich in der siebten Klasse war, fingen ein paar meiner Mitschüler an über
mich zu reden. So hinter vorgehaltener Hand. Haha, der ist schwul, sagten sie. Die wollte mich nicht
diskriminieren, die hassen auch Schwule gar nicht, die waren einfach ungebildet
und unreif.

Wenn man wie an den meisten Schulen nie über Sexualität redet, dann
orientieren sich alle an dem Standard: Mädchen müssen in Jungs verliebt sein,
Jungs in Mädchen. Alles was davon abweicht, gilt als komisch oder falsch. Würden
Lehrer ganz offen über Sexualität reden, dann würden die Schüler auch nicht
darüber flüstern müssen.

Sexualkunde
findet hier in Berlin, wenn man nicht Religionsunterricht hat, im
Ethikunterricht statt. In unserem Fall unterrichtete eine Biolehrerin, die
eine Fortbildung gemacht hatte. Wir besprachen in Ethik Themen wie zum Beispiel
Alkohol und Drogen. In einer Prüfung musste ich berechnen, wie viel Promille
jemand im Blut hat, der 80 Kilo wiegt und drei Bier getrunken hat.

Ungefähr
so lief es auch ab, als wir Sexualkunde hatten. Da hieß es, Schwule sind Männer
die Männer lieben, Lesben sind Frauen die Frauen lieben. Aber was das bedeutet,
wie man sich outet, wie man andere nicht diskriminiert, darüber haben wir nicht
geredet. Wir haben über Sexualität so geredet, als beträfe sie irgendwelche
fremden Menschen da draußen, aber auf keinen Fall uns selbst.

Ich
identifiziere mich als Transfrau. Ich bin sicher, es hätte mir geholfen, wenn
ich noch einen anderen Ort gehabt hätte als das Internet, an dem ich mich
hätte informieren können. Gerade wenn man das erste Mal spürt, dass
man solche Gefühle hat, ist man damit sehr alleine. Ich habe mit Freundinnen
geredet, aber die wussten ja auch nicht viel mehr. Wenn man nicht aufgeklärt
wird, denkt man,
es stimmt etwas nicht mit einem. Und dann folgen alle möglichen Probleme. Das
ist einfach Scheiße.

Es
gibt Leute, die sagen, Aufklärung ist ein Thema für die Eltern. Aber viele Eltern wissen gar nicht besonders viel über sexuelle
Vielfalt. Ich
finde, die Schule sollte ab der siebten, achten Klasse anfangen, über Sexualität zu
reden und danach immer wieder und verlässlich. Zum Beispiel im
Deutschunterricht in der Oberstufe, wenn wir einen Roman wie Effi Briest lesen, können wir doch auch darüber reden, was für eine Gesellschaft das
war, in der ein junges Mädchen an jemanden verheiratet wird, der mehr doppelt
so alt ist. Und warum man das heute nicht mehr machen würde. Es gibt so viele
Momente in verschiedenen Fächern. Aber die Lehrer trauen sich nicht. 

Schulen
sind ein heteronormativer Raum. Als Transfrau sage ich sogar: ein cisnormativer.
Die meisten Lehrer denken gar nicht darüber nach, aber sie teilen ihre
Schülerinnen ständig nach Geschlechterstereotypen ein. Zum Beispiel: Jetzt
müssen wir ein paar Bänke in einen anderen Raum tragen, da brauchen wir starke
Männer.

Ich
habe mich in meiner Schule nicht geoutet. Hätte ich es gemacht, dann wäre ich eine bunte Kuh
geworden. Einige wären sicher total nett zu mir gewesen, weil sie tolerant sein
wollten. Andere hätten mich beleidigt. Ich wollte aber nicht, dass meine geschlechtliche Identität alles andere überdeckt, was mich ausmacht. Ich wollte
nicht die Beauftragte für alle Fragen über Schwule, Lesben, Trans und Queer
werden. Ich bin ja immer noch derselbe Mensch.

In
der Schule kommen so viele Menschen zusammen, die sich sonst vielleicht nie
treffen würden.
Gerade dadurch gibt es eine große Chance, dass man ihnen beibringen kann,
wie unterschiedlich Menschen und Lebensmodelle sind. Und dass sie alle okay und
valide sind. Diese Chance muss die Schule nützen. Und Sexualität interessiert unter Garantie alle.  

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Lena Rohde, 15, Gymnasiastin: “Es darf nicht mehr cool sein, jemanden zu beleidigen”

In der Grundschule lernen wir
Schüler*innen im Biologieunterricht, dass es zwei verschiedene Geschlechter gibt. Das wiederholt sich, etwas vertiefter, in der achten Klasse. Dann ist auch Verhütung Thema. Aber was Homosexualität ist, was Sexualität generell bedeutet,
darüber erfahren wir nichts. Die Lehrerin hat uns zwar gesagt, wir müssten unsere Aufsätze
gendern, sonst gäbe es Punkteabzug. Doch es fehlte jede Debatte darüber, warum
es wichtig sein könnte, in einem Text die geschlechtliche Vielfalt zu beachten.

Wir haben an den
allermeisten Schulen ein Klima, das nicht unbedingt dazu ermutigt, zu seiner
sexuellen Orientierung zu stehen. Das gilt für Schülerinnen und Schüler wie für Lehrerinnen. Dabei
wäre es gerade gut, wenn wir ein paar offen schwul oder lesbisch lebende Lehrer
hätten, sie können ein Vorbild sein. 

Lena Yasemin Rohde, 16, lebt mit ihrer Familie in Frohnau. Sie besucht dort das evangelisches Gymnsium in der 10. Klasse, das an der Studie teilnahm. Sie ist Schülersprecherin und Vorsitzende im Gremium der Schülersprecher der evangelischen Schulen in der EKBO.

Lena Yasemin Rohde, 16, lebt mit ihrer Familie in Frohnau. Sie besucht dort das evangelisches Gymnsium in der 10. Klasse, das an der Studie teilnahm. Sie ist Schülersprecherin und Vorsitzende im Gremium der Schülersprecher der evangelischen Schulen in der EKBO.
© privat

Die Schüler*innen beschäftigt das Thema etwa ab der achten
Klasse auf einer ganz persönlichen Ebene: Wie gehe ich damit um, wenn sich
mein bester Freund outet? Wenn ich selber merke, dass ich mich nicht so leicht
einem Geschlecht zuordnen kann? Aber auch darüber hinaus. Es sollte etwa in Religion und Geschichte auch um Themen wie
Gleichberechtigung gegen, zum Beispiel. Warum kommen sie in anderen
Schulfächern einfach nicht vor?

Ich glaube, die Lehrer*innen wären
offen dafür, sind aber unsicher, wie sie es gestalten sollen. In Religion, zum
Beispiel, gibt es ja diese berühmten Bibelzitate: Der Mann soll nicht beim
Manne liegen. Wie gehe ich als gläubiger Christ damit heute um? Das sollte doch besprochen werden. Es gibt Pfarrer*innen, die die Bibel
queer lesen. Das könnten Lehrer auch einmal tun.   

Ich selbst habe von diesem queer
Lesen und anderen Themen rund um die Diverstiät durch die Evangelische Schulstiftung,
der meine Schule angehört, viel gelernt. Regelmäßig werden hier Fortbildungen angeboten. Einfach ist allerdings nicht, dieses Thema an die Schule zu bringen. Ich habe mal für
eine Klasse ein Treffen mit einer Organisation veranstaltet, die den Schülern
Diversität näher bringen wollte. Das Feedback auf diesen Tag war sehr geteilt.
Viele haben sich darüber gefreut, manche haben gesagt, es sei völlig
überflüssig, über verschiedene Formen sexueller Orientierung zu reden.
Es seien ja ohnehin alle total tolerant. Ich glaube, dass
einige nicht über Sexualität reden wollen, zeigt, dass wir eben noch nicht
offen genug sind.   

Dass sich in der Studie über 20
Prozent der Schüler nicht als heterosexuell bezeichnen, sondern homosexuell,
unentschlossen oder sogar asexuell, finde ich bemerkenswert. Ich glaube, diese
Zahl spiegelt eine gesellschaftliche Realität wieder. Sie wäre ähnlich, wenn man
deutschlandweit gefragt hätte. Ich denke, damit wird ein Dialog entstehen. Bei uns an der
Schule, aber auch in der Gesellschaft. Die Studie kann Schüler ermutigen,
auf ihre Lehrer zuzugehen und zu sagen: Wir wollen im
Unterricht darüber reden.

Wir sollten aber nicht alle überrennen, die
anders denken. Manche Eltern erwarten von der Schule, dass sie
konservativ sein soll. Es gibt auch Schülerinnen und Schüler die glauben,
Homosexualität sei eine Krankheit, die man heilen muss. Unwissen über Vielfalt ist
gefährlich. Es kann auch zu Verletzungen von Schülern untereinander führen. Die
13-, 14-Jährigen auf den Gängen sagen immer noch: “Du Schwuler”. Sie meinen das
als spielerische Beleidigung. Aber es ist eine Diskriminierung. Es darf
nicht mehr cool sein, jemanden zu beleidigen. Das können aber
gerade sehr junge Menschen nur verstehen, wenn es ihnen jemand erklärt.    

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Karin Schmidt, 33, Lehrerin: “Mich geht das Liebesleben der Schüler nichts an”

In der Oberstufe haben wir aktuell drei transgender Schüler. Die Eltern haben uns darüber informiert. Dann sage ich in der ersten Stunde: Jasmin heißt jetzt Tim. Wer Fragen hat, kann die gerne mit den Lehrern besprechen. Im Unterricht selber haben wir nicht darüber geredet. Warum auch? Es geht die Lehrerinnen und Lehrer nichts an, welche geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung ihre Schüler haben. Genauso wenig wie die Schüler mein Liebesleben etwas angeht. 

Sexualität interessiert alle. Macht was draus!


© Jacobia Dahm für DIE ZEIT und ZEIT ONLINE

Ich lebe mit einer Frau zusammen. Ich habe das lange vor den Kollegen geheim gehalten. Denn ich bin Lehrerin für katholische Religionslehre. Das Fach dürfte ich vermutlich gar nicht mehr unterrichten, wenn die Kirche davon erfahren würde. Am Anfang hatte ich auch noch Sorge, dass einer meiner Schüler erfahren würde, dass ich lesbisch bin. Nicht nur wegen meines Jobs, sondern auch deswegen, weil ich nicht wollte, dass die Jugendlichen hinter meinem Rücken über mich reden. Ich bin Frau Schmidt und nicht die Lesbe. 

Andererseits glaube ich, dass gar nicht so viel passieren würde, wenn meine Schülerinnen und Schüler es wüssten. Ich habe mit den allermeisten ein sehr gutes Verhältnis. Aber ich will mich nicht angreifbar machen. Idioten gibt es immer. Daran würde man auch nichts ändern, wenn man noch mehr über sexuelle Vielfalt reden würde. 

Bei Tim zum Beispiel, der mal Jasmin war, merke ich, dass ein paar der megacoolen Jungs, von denen es in den 10. Klassen so einige gibt, ihre Probleme haben, mit ihm umzugehen. Vielleicht hängt Tim deswegen auch lieber mit den Mädchen rum. Die sind offener, was das Thema Sexualität angeht. 

An unserer Schule wollen wir uns jetzt mehr mit Diversität und Gender befassen. Wir überlegen, wie wir diese Themen stärker in den Unterricht einbauen können. Wir haben gemerkt, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler in der Pubertät unsicher sind, wer oder was sie sein sollen. Sie nehmen ihr Geschlecht oder auch die heterosexuelle Orientierung nicht mehr unbedingt als Norm hin. Bei diesem Weg brauchen sie aber Begleitung.

Die Schule kann ihnen helfen, über Mechanismen und Konsequenzen von Outing aufzuklären. Auch das ist eine Tendenz, die ich beobachtet habe: Es wird auf dem Schulhof und in den Klassenzimmern immer mehr über persönliche Dinge gesprochen. 

Manche Lehrer sind noch sehr befangen. Besonders, wenn sie gerade erst in den Beruf einsteigen. Und nicht in jeder Klasse gibt es ein Klima, das einem Lust macht, über Sexualität zu reden. Manche Schüler liegen schon auf dem Boden, wenn jemand “Penis” sagt. In anderen Klassen hat jemand lauter Penisse auf die Tafel gemalt. Um sensible Themen zu unterrichten, muss man dann erst mal die richtige Atmosphäre schaffen. Da überlege ich manchmal schon, ob ich nicht lieber ein anderes Thema drannehme.  

Karin Schmidt, 33, Lehrerin für Englisch und katholische
Religionslehre an einem Gymnasium im Rheinland, heißt anders. Sie möchte
aber ihren Namen nicht nennen, weil das ihren Job gefährden könnte
.

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Julia Renner, Lehrerin: Sexualkunde – “es ist so ein freudiges Gruseln”

Meine
Schüler sind immer ganz aufgeregt, wenn in der sechsten Klasse das Thema Sexualkunde
in Bio kommt. Die meisten blättern im Buch vor, manche können die Seiten schon
auswendig. Besonders die Darstellungen mit den nackten Körpern hat es ihnen angetan.
Die schlagen sie dann auf, gruseln sich, und schlagen sie schnell wieder zu. Es
ist aber mehr so ein freudiges Gruseln. 

Man
kann die Peinlichkeiten vermeiden, wenn man sich von Anfang
an gemeinsam auf die Termini einigt, die wir benutzen wollen. Meistens sind es die biologischen, wenn wir über Geschlechtsorgane, den weibliche
Zyklus, sexuelle Orientierung reden. In der achten kommt das Thema wieder, diesmal
etwas ausführlicher.

In
meinen Kurs in der sechsten habe ich gerade einen transidenten Jungen. Er weiß
seit der fünften Klasse, dass er ein Junge sein will und geht offen damit
um. Er hat den anderen Kindern angeboten, dass sie Fragen stellen können, und
das tun sie auch. Weil wir in dieser Klasse so eine gute Klassengemeinschaft
haben, gab es da gar keine Probleme. Einmal sagte ein Mädchen aus einer höheren
Stufe zu ihm auf dem Pausenhof: “Du bist doch eigentlich ein Mädchen.” Sie
wollte ihn aufziehen. Aber da sagte einer aus der Klasse: “Ja, und? Das weiß
doch jeder.” Und dann war es gut.

Natürlich
müsste noch viel mehr über Vielfalt gesprochen werden oder über Sexualität
generell. Die Kinder brennen auf diese Themen. Ich unterrichte an einer
Gesamtschule, da verstehen wir uns als Erziehungsbegleiter. Aber
wir haben auch einen sehr straffen Lehrplan. Es gibt viele Themen, die deswegen
etwas zu kurz kommen. Ich würde auch gerne
mehr über Cybermobbing sprechen zum Beispiel. Ich kenne keine Lehrerin oder keinen Lehrer, der beschämt wäre oder Angst vor dem Thema Sexualität hätte, es
fehlt einfach nur die Zeit.

Für
den Deutschunterricht gibt es einige Lektüren, die alle Aspekte des Themas Vielfalt
aufgreifen. Da ist dann mindestens einer schwul, ein anderer behindert. Mir ist
das zu künstlich. Ich lese Bücher wie Tschick, da kommt das Thema auch vor,
aber nicht so mit dem Holzhammer.

Das
wichtigste ist, dass Lehrerinnen an der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen dran bleiben. Seit ich eine
transidente Schülerin habe, habe ich mich mit dem Thema viel stärker
auseinandergesetzt. Da habe ich gemerkt, es gibt vielleicht noch ganz andere
Dinge, von denen ich wenig weiß. Für
diese Situation bin ich nicht geschult worden. Fortbildungen können nicht
schaden, aber ich halte sie nicht für zwingend nötig. Wir haben
einen guten Blick für unsere Schülerinnen und Schüler, das ist unser Job. 

Julia Renner, 45, heißt in Wirklichkeit anders, möchte aus Rücksicht auf ihre Schülerinnen und Schüler ihren Namen nicht nennen. Sie unterrichtet Deutsch und Biologie an einer Gesamtschule im Münsterland. 

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Thomas Moldenhauer, Grundschulleiter: “Vielfalt ist auch für den Lernerfolg wichtig”

Thomas Moldenhauer, 46, ist Schulleiter der Evangelischen Schule in Berlin-Buch (Grundschule). Er ist Fortbildender im Bereich Evangelisches Profil und Schulentwicklung. Beim Institut für Kultur und Religion / InKuR – Berlin absolvierte er die Ausbildung zum Coach für Veränderungsprozesse.

Thomas Moldenhauer, 46, ist Schulleiter der Evangelischen Schule in Berlin-Buch (Grundschule). Er ist Fortbildender im Bereich Evangelisches Profil und Schulentwicklung. Beim Institut für Kultur und Religion / InKuR – Berlin absolvierte er die Ausbildung zum Coach für Veränderungsprozesse.

Die Schule hat den Auftrag, Kinder
in ihrer Entwicklung bestmöglich zu begleiten und zu fördern. Das gilt auch für das Thema sexuelle Vielfalt. Einige denken, das sei ein Privatthema. Lehrerinnen und Lehrer aber vermitteln nicht nur Wissen – sondern lehren auch, wie man andere Menschen mit Respekt und Wertschätzung behandelt. Ich nenne das gern
Begegnungskompetenz.

Unsere Schule will sich dem Thema
Vielfalt und insbesondere auch der Thematik der sexuellen Vielfalt stellen.
Bisher geschieht dies nur in Ansätzen im Biologie-, bzw. im Sachunterricht oder
im Fach Naturwissenschaften in der Grundschule. Hier liegt der Fokus auf der Vermittlung von Körperwissen. Die Studie unseres Schulträgers zu
diesem Thema hat ergeben,
dass das Thema sexuelle Vielfalt ein sehr großes Anliegen unserer Schüler*innen
ist und auch ihrer Lebensrealität entspricht, aber im schulischen Kontext aus
ihrer Sicht viel zu wenig Raum hat. Wir brauchen also an allen Schulen in Deutschland eine
Diversitystrategie. 

Das fängt bei
den Unterrichtsmaterialien an. Keine Schülerin und kein Schüler wird uns ernst nehmen, wenn in den Schulbüchern immer nur die glückliche Familie aus Vater,
Mutter, Kindern auftaucht, die in einem Haus mit Garten und Familienhund leben.

Die Pädagogen, aber auch alle Schulleitungen, bräuchten Fortbildungen, um sich mit dem Thema sexuelle Vielfalt kompetent auseinander zu
setzen. An unserer Grundschule haben wir bereits Fachleute eingeladen und über altersgerechte Methoden und Lernformen nachgedacht.

Aber auch für den Alltag unserer
Grundschule ist es wichtig, sexuelle Vielfalt sichtbar zu machen. Zum Beispiel, wenn im Morgenkreis eine lesbische Lehrerin davon erzählt, dass sie mit ihrer
Frau im Konzert war. Oder wenn ein Schüler, der zwei Väter hat, berichtet,
dass eine der Großmütter zu Besuch war. Wir wollen an unserer Schule eine
Haltung entwickeln, die die Vielfalt wertschätzt und Begriffe wie “normal” oder
“unnormal” abbaut. 

Sich für solche Themen der Vielfalt zu öffnen, bedeutet auch, formale Rahmenbedingungen zu verändern. Wir fragen bei der Schulanmeldung im
Aufnahmeformular nicht mehr nach Vater und Mutter des Kindes, sondern nach den
Erziehungsberechtigten. Dies schließt andere Familienkonstellationen nicht aus
und ist leicht umsetzbar. Im Sportunterricht wird es schwieriger: Es gibt bislang nur Umkleiden
für Mädchen und für Jungen. Wie finden da Kinder einen Raum, die sich keiner
dieser Kategorien zuordnen wollen? Gesonderte Räume wären für unsere Schule ein bauliches Problem, vielleicht würden sie auch zu neuen Diskriminierungen führen.

Vielfalt ist wichtig
für den Lernerfolg. Auch in unserer Schule wollen wir
erreichen, dass Kinder lernen und für einen guten
Schulabschluss vorbereitet werden. Aber es gibt eben noch mehr. Nämlich die Persönlichkeitsentwicklung
unserer Kinder. Sie haben eigene Erfahrungen, Fragen, Bedürfnisse und
Einschätzungen. Welche dies sind, zeigt die Studie sehr eindrucksvoll. Dass sich 20 Prozent unserer Schüler*innen im
Bereich der Jahrgangsstufen 7 bis 13 als nicht heterosexuell beschreiben, hat uns in der Dimension alle überrascht. Und außerdem war ein wichtiges
Ergebnis, dass sich unsere Schüler*innen wünschen, in der Schule kompetente
Ansprechpartner*innen zu finden und Schutz vor Diskriminierung zu erleben. Auch
hier will unsere Schule klar “Farbe bekennen”.

Ich finde: Wenn wir an den Fragen und Anliegen
der Kinder und Jugendlichen vorbeiunterrichten, geht der Lernantrieb verloren
und das Verhältnis zwischen Pädagoge und Schüler wird maßgeblich gestört. Schüler,
die sich im Unterricht wertgeschätzt und ernst genommen fühlen, lernen hingegen
deutlich besser und gehen gern zur Schule.

Eine kürzere Version dieser Protokolle erschien in der ZEIT 22/2019.

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