/70 Jahre Grundgesetz: Die Summe aus Schmerz, Scham und Schuld

70 Jahre Grundgesetz: Die Summe aus Schmerz, Scham und Schuld

Das ist eigentlich ein Wahnsinnssatz, den der Autor und
Biograf des Grundgesetzes Christian Bommarius bei einem Gespräch ganz nebenbei
fallen lässt. Man plaudert über die “1949er Stimmung” und die der
Folgejahre. Dann sagt er: “Die Deutschen haben sich null für das Grundgesetz
interessiert. Sie haben es nicht mal mitbekommen. Man war mit Wichtigerem
beschäftigt. Mit Verdrängen.”

Das ist ein ganz schöner Katastrophenbefund. Er aber meint,
dass sei verständlich, nicht normal und auch nicht gesund, aber doch
nachvollziehbar. Denn hätten sich die Deutschen mit dem Grundgesetz beschäftigt,
ziemlich weit vorne, gleich nach der Präambel, mit Artikel 1, “Die Würde des
Menschen ist unantastbar”, hätten sie sich dafür umdrehen und nach hinten
schauen müssen. Da waren der Holocaust, die Millionen Kriegstoten, die Verwüstung.
Hätten sie nach hinten geschaut, wären sie sofort verrückt geworden. Er hat
vermutlich recht. Hinten lag der Wahnsinn. Ein Irrweg, der aus der immensen
Kraftanstrengung bestand, die Würde des Menschen nicht nur fortwährend angetastet,
sondern das Menschsein an sich ruiniert zu haben. Sich freiwillig mit einer
neuen Verfassung zu beschäftigen, hätte eine Konfrontation mit der eigenen
Verfassung bedeutet.

Es gibt keine Stunde Null. Die Stunde
Null ist die Summe aus Vergessenwollen. Und das Vergessenwollen ist die Summe
aus Schmerz, Scham und Schuld. Artikel 1 entstand nicht deshalb, weil man
einen poetischen Textanfang benötigte. Er entstand auf den Trümmern der Menschlichkeit.
Und die Deutschen interessierten sich nicht die Bohne für das größte
Geschenk, das man ihnen machen konnte. Stattdessen schwärmten sie, befragt nach
ihren Erfahrungen in den Nachkriegsjahren von den Kaugummis der Amis
und der Schokolade der Franzosen. Vielleicht war es auch ein Glück, dass die Deutschen
sich in den Entstehungsprozess des Grundgesetzes nicht einmischten. Die
Mehrheit unter ihnen
hätte sich für den Einheitsstaat und die Beibehaltung der
Todesstrafe entschieden. Sie bekamen aber Föderalismus statt Fallbeil.

Bitte keine Geschichtsreferate

Macht man sich zur Aufgabe über das Grundgesetz etwas
nachzudenken, fällt es schwer, sich ausschließlich mit der Frage nach dem Heute
zu befassen. Das tut man ja ganz gerne. An die Geschichte erinnern zu wollen,
aber bitte keine Chronologie der Ereignisse! Bitte keine Geschichtsreferate!

Das Heute knüpft aber an das Gestern an. Dann begreift man die Wahlergebnisse der Bundestagswahl von 2017 eben nicht als
überraschende Naturkatastrophe, sondern kann darin eine Folge der “1949er
Stimmung” vermuten. Die alte Ignoranz gegenüber der neuen Gesellschaftsordnung
wächst sich offensichtlich nicht einfach
raus. Wer heute noch rechtsextreme Parteien wählt, die nachweislich die
demokratischen Institutionen angreifen, wer die Gewaltenteilung in Frage stellt,
oder schlimmer, zu unterwandern versucht, wer Menschen und ihre Grundrechte wieder
hierarchisiert, der hat das Grundgesetz eben nicht automatisch verinnerlicht.

Das Grundgesetz ist auch ein Erziehungsleitfaden. Der Geist,
von dem oft die Rede ist, besteht daraus, den Anderen als gleichwertig zu
betrachten. Es soll ein rücksichtsvolles Deutschland werden. Der Anspruch hat
natürlich mit dem Autorenkollektiv zu tun, der diesen Text schrieb. Es handelte
sich beim Parlamentarischen Rat um Oppositionelle, Inhaftierte, einige waren
während der Nazijahre im Exil, sie waren alles Mögliche, nur keine Nazis. Das ist für den Werkcharakter
wichtig.

Was für den einzelnen Denker gilt, gilt ebenso für
Gemeinschaftswerke. Jeder Autor weiß darum: Alles Schreiben enthält auch das
eigene Leben. Die Erfahrung schreibt immer mit. So gesehen liegt dem Grundgesetz
ein unsichtbares Netz zugrunde, das aus dem Widerstandsgeist, den
Distanzierungsversuchen, der inneren oder äußeren Immigration während der
Nazijahre seiner Autoren entsteht. 

Es ist ein Text. Aber er trägt 65 Handschriften und Biografien.
Zwei Juden schreiben ebenfalls mit: Walter Strauß (CDU) und Rudolf Katz (SPD). Allerdings
war es zu jener Zeit unüblich, sich als Jude zu bekennen. Zumal Katz 1930 aus
der Gemeinde austrat. Trotzdem ist man erleichtert im Parlamentarischen Rat wenigstens
zwei jüdische Deutsche zu wissen, weil es andernfalls – aus heutiger Sicht – ein
seltsamer Beginn wäre.

Gibt es “Demokratiemüdigkeit”?

Man liest das Grundgesetz wie eine Art Schulbuch der
Demokratie, dessen Ziel darin besteht, eine Gemeinschaft mit gleichen Rechten
für alle zu schaffen. Christian Bommarius hat auch dazu etwas gesagt: “Das
Grundgesetz verordnet den Deutschen einen Lernprozess.” Mit anderen Worten. Die
Artikel sagen: Das hat so zu sein!

Aber nicht nur. Tatsächlich funktioniert das Regelwerk wie
ein Fortsetzungsroman mit Bürgerbeteiligung. Nicht jeder politische Diskurs schafft es als
Änderung in den Gesetzestext und nicht alles wird von den Deutschen als groß
und wichtig erachtet. Von den über sechzig Änderungen sind es vielleicht eine
Handvoll Ergänzungen, die die Gesellschaft überhaupt mitbekam. Die Strafbarkeit
von Homosexualität wurde abgeschafft, auch Frauen wurden über die Jahrzehnte bessergestellt. Asylsuchende hingegen waren im Ursprungstext besser dran: Jahrzehnte später bekam der Artikel 16 ein Anhängsel, der das Recht auf politisches Asyl wieder stark einschränkte. Diese drei
Vorgänge wurden am heftigsten umkämpft. Man leitet
daraus ab: Dort, wo die Interessengruppen sich organisieren können, gelingt es
ihnen, den Text zu verändern. Dort, wo Menschen keine Lobby haben, kann es
passieren, dass sie mit den Jahren in ihren Rechten sogar beschnitten werden.

Es gibt den Begriff der “Demokratiemüdigkeit”, mit dem man
erklären will, warum Bürger in Deutschland rechtsaußen wählen. Demnach
geschieht das aus Erschöpfung. Als seien sie defensive, schwache Opfer, die aus
Versehen die Demokratie aushöhlen. In dieser Lesart steckt der Versuch, den
“einfachen Bürger”, der immer noch (oder schon wieder) mit dem Grundgesetz
fremdelt, gesellschaftspolitisch und moralisch zu resozialisieren. Selbst bei
Parteien, die offensichtlich das Grundgesetz in ihrem Reden missachten, hat man
Skrupel, sie als das zu benennen, was sie sind, nämlich Verfassungsfeinde. Das
Grundgesetz ist kein in Beton gegossener unbeweglicher Monolith. Das
Grundgesetz ist ein starker, aber auch ein beweglicher Text. Wenn die Mehrheit
der Deutschen das Grundgesetz in seiner jetzigen Form achtet und respektiert und
sich nach mehr Demokratie und Gleichheit sehnt, ist diese
Beweglichkeit ein Vorteil. Andernfalls wäre andernfalls.

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