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Sebastian Kurz: Wundersam wandelbar

Der Mann trug die Erleichterung
gleichsam vor sich her. “Genug ist genug”, stöhnte der österreichische Bundeskanzler
Sebastian Kurz am Samstag im Wiener Kanzleramt in die Mikrofone. Er habe ja
schon viel aushalten müssen, aber dieses Video sei zu viel. Neuwahlen müsse es jetzt geben – weitermachen sei in dieser Koalition mit den
Freiheitlichen nicht mehr möglich, es gehe einfach nicht mehr. Wie ein Märtyrer klang er da.

Wie so oft bei einer Trennung waren Beobachterinnen und Beobachter überrascht: Man hatte es ja nicht für eine Verbindung aus Liebe gehalten, aber doch als grosso modo gut funktionierende Beziehung gesehen. Vor allem im Vergleich mit weit unharmonischeren, die einem im Lauf der Jahre untergekommen waren. Erst vergangenen Donnerstag hatten Kurz und sein Vizekanzler Heinz-Christian Strache in kurzer Distanz
zum Europawahltermin eine beträchtliche Erhöhung der Kleinstpensionen angekündigt. Und wie bei den meisten ihrer Auftritte besangen sie dabei die großartigen Leistungen dieses Kabinetts weit rechts der Mitte.

Das demonstrative
Nichtstreiten war sogar einer der Pfeiler dieses Bündnisses. Kurz wies immer wieder darauf hin, nicht ohne stets auch den Zank in der Koalition seiner Partei
mit den Sozialdemokraten in Erinnerung zu rufen. Mitunter war sogar der Hauch einer Männerfreundschaft zu spüren zwischen dem fein ziselierten Slim-Fit-Kanzler Kurz und
seinem etwas groben, vom Leben schon gezeichneten Vizekanzler Strache, der sich gern in seiner prallen Männlichkeit inszenierte.

Von den FPÖ-Ideologen kaum noch zu unterscheiden

Auch in der Einschätzung
ihrer Gegner waren sich Kurz und Strache stets einig: linkslinke Chaoten,
Willkommensklatscherinnen, Islamistenversteher, die in ihrem Hochmut die Sorgen und
Nöte des einfachen Volkes nicht verstehen wollen. Die österreichischen
Boulevardzeitungen, von der Regierung liebevoll mit Anzeigenaufträgen verwöhnt, gaben
ihnen völlig recht. Jede Gemeinheit seines
Innenministers gegenüber Flüchtlingen und Zuwanderern segnete der Bundeskanzler
ab und verteidigte sie wortreich. Er selbst machte es zu einem der wichtigsten
Projekte dieser Regierung, in Österreich arbeitenden Pflegerinnen aus Polen,
Ungarn oder Rumänien die staatliche Familienbeihilfe zu kürzen, weil in ihren
Heimatländern ja ohnehin alles billiger sei.

Selbst Kurz ursprünglich gewogene
Kommentatoren kamen immer öfter zur Ansicht, er sei von den xenophoben
FPÖ-Ideologen eigentlich nicht mehr zu unterscheiden. Sei das noch
christsozial, fragte man.

Gewiss: Wenn es gar nicht
mehr ging, zog der Kanzler kurz die Notbremse. Als der Braunauer
Vizebürgermeister und FPÖ-Obmann vor einigen
Wochen Flüchtlinge und Zuwanderer in einem “Gedicht” in seiner Gemeindezeitung
mit Ratten verglich, verurteilte Kurz das. Der Vizebürgermeister wurde von seiner
Partei zum Rücktritt bewogen.

Ein Tipp aus dem Innenministerium?

Wenig später wurde
bekannt, dass der Moscheen-Attentäter von Christchurch auf einer Europareise
wenige Monate vor dem Anschlag auch in Österreich war und den dortigen Identitären, dieser proper aussehenden, inhaltlich aber ewiggestrigen
Rechtsaußen-Riege, 1.500 Euro gespendet hatte. Schnell flog auf, dass auch
namhafte FPÖ-Vertreter enge Kontakte zu den Identitären unterhalten, etwa der
Grazer Vizebürgermeister und mehrere Nationalratsabgeordnete. Das gehe nicht, monierte
Kurz. FPÖ-Chef Strache, dem die Sache sichtbar peinlich war, mahnte bei FPÖ-Funktionären
mit allzu großer Nähe zu dieser Gattung von Rechtsextremisten mehr Distanz an.

Nichts hörte man vom
Kanzler, als der Fall vorvergangene Woche – da war die Koalition noch stabil – eine merkwürdige Wendung nahm. So wurde bekannt, dass
Identitären-Chef Martin Sellner, der mit dem Christchurch-Attentäter in regem
Mailkontakt gestanden hatte, 40 Minuten
vor einer Hausdurchsuchung mit der Löschung aller Dateien auf seinem PC begann.
Tags darauf berichteten Zeitungen, die Beamten hätten vor der
Hausdurchsuchung zwölf Minuten an die Tür hämmern müssen, bevor Sellner – man
hörte, dass er in der Wohnung kramte – sie endlich einließ. Hatte es da einen Tipp aus dem heute mit rechten Burschenschaftern durchsetzten
Innenministerium Herbert Kickls gegeben?

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