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Guinea-Wurm: Das Rätsel vom Schari-Fluss

Wie jeden Tag schlendert Ousmane Abgoudja durch das Dorf, um dafür zu
sorgen, dass der kleine Drache aus der Welt verschwindet. Die heiße Sonne treibt ihm
Schweißperlen auf Stirn und Nacken. Er streift vorbei an Bohnensträuchern, Wasserpumpen und
Lehmhütten. Plötzlich rennt ein Junge in einem Trikot des Fußballclubs Paris Saint-Germain auf
Abgoudja zu: “Hey, Ousmane!” Beide wissen, wohin sie gehen. Immer mehr Kinder des Dorfes
folgen ihnen, sie sehen jetzt aus wie eine Jugendmannschaft mit ihrem Trainer, der kleine
Junge wie ihr Kapitän.

Der Name des Jungen lautet Baana Pay. Gestern Morgen hatte er eigentlich nur den Hund der Familie füttern wollen, Fischsuppe zum Frühstück, da fiel ihm die Beule am Bein des Tieres auf. Als Abgoudja kurz darauf im Dorf eintraf, erzählte ihm Baana davon. Die beiden banden die Hündin an den Hirsespeicher, wo sie jetzt noch immer liegt, im Schatten.

Ousmane Abgoudja nimmt ein paar Gummihandschuhe aus dem Rucksack und streift sie sich über. Dann umfasst er vorsichtig das Bein und schaut auf die Wunde der Hündin, sie knurrt. Ob der kleine Drache sie infiziert hat? Es wäre der neunte Hund mit der Krankheit in Bandama, diesem staubigen Dorf am Rande des Schari-Flusses, im Süden des Tschads.

Kleiner Drache aus Medina heißt der Parasit, lateinisch Dracunculus medinensis, bekannter ist er unter dem Namen Guinea-Wurm. Noch 1986 befiel er 3,5 Millionen Menschen weltweit. Jetzt ist der Tschad seine letzte Bastion. Der Wurm gelangt in der Regel mit dem Trinkwasser in den Körper, durchquert die Schleimhäute im Magentrakt, schlängelt sich durch die Extremitäten und wächst auf bis zu einen Meter an. Erst nach 12 bis 14 Monaten bohrt er sich durch die Haut nach außen, meist am Fuß. Seine Opfer haben große Schmerzen, manche können monatelang nicht arbeiten – eine Katastrophe für Familien, die sich selbst versorgen. Selten ist der Wurm tödlich, doch manche Patienten tragen schwere Behinderungen davon. Einen Impfstoff gibt es nicht.

1986 schmiedeten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das vom Ex-US-Präsidenten Jimmy Carter gegründete Carter Center mit den Regierungen der betroffenen Länder einen Plan: Sie wollten den Guinea-Wurm ausrotten. Neben den Pocken wäre es die zweite Krankheit, bei der der Menschheit das gelungen wäre. Nach zehn Jahren gab es nur noch 153.000 Fälle. 2006 noch 25.000. Und 2018 waren es gerade einmal 28.

Manche glauben deshalb, das Problem sei bald gelöst. Andere beginnen in diesen Tagen daran zu zweifeln. Denn plötzlich befällt der Guinea-Wurm nicht nur Menschen, sondern auch Tiere. Fast alle seiner Opfer sind Hunde, und bis auf wenige Ausnahmen passiert das nur im Tschad. Nicht nur in Bandama, sondern auch in rund 1800 weiteren kleinen Dörfern am Rand des Schari-Flusses, der sich aus dem Süden des Landes dem Tschadsee entgegenschlängelt.

Niemand weiß, wie sich die Tiere im Tschad den Wurm einfangen, niemand weiß, ob sich dadurch auch wieder Menschen anstecken werden. Der Guinea-Wurm ist jetzt ein Rätsel, ein Tschad-Rätsel. Ousmane Abgoudja und 600 weitere Männer sollen helfen, es zu lösen. Machen sie ihren Job nicht richtig, übersehen sie einen Fall, haben sie kein Auge auf die Menschen und ihre Hunde – dann wütet der Wurm weiter.

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