/Missbrauchsvorwürfe: Der Fall R. Kelly

Missbrauchsvorwürfe: Der Fall R. Kelly

Die Zahl geht einem nicht mehr aus dem Kopf. 48, hat Jim DeRogatis am Telefon gesagt: Er kenne 48 Namen von Frauen, die glaubhaft beschrieben hätten, von dem Musiker R. Kelly in den vergangenen knapp drei Jahrzehnten sexuell ausgebeutet worden zu sein. Viele seien minderjährig gewesen, als es begonnen haben soll. Alle seien schwarze Frauen. Ihr vermeintlicher Peiniger ist einer der erfolgreichsten R-‘n-‘B-Musiker aller Zeiten, heute 52 Jahre alt, mehr als 150 Millionen verkaufte Tonträger, Welthits wie I Believe I Can Fly und Ignition (Remix). Anderen Künstlern hat er auch Hits geschrieben, Michael Jackson, Whitney Houston, Lady Gaga, nur die erste Riege.

Jim DeRogatis sagt, er habe mit einem Großteil der 48 Frauen gesprochen. Manche haben ihm erlaubt, nicht nur ihre Geschichte zu erzählen, sondern auch ihre Namen zu nennen. Andere wollten nicht in DeRogatis’ Enthüllungstexten über Kelly vorkommen, die er anfangs für die Chicago Sun-Times verfasst hat, der erste erschien dort im Dezember 2000. DeRogatis war da der Musikredakteur der Boulevardzeitung. Er nennt sich selbst einen “fetten weißen Rockkritiker, der über das schreibt, was er liebt, Musik”. Das konnte er nicht mehr ungetrübt tun, nachdem er zusammen mit Abdon Pallasch, dem damaligen Polizei- und Gerichtsreporter der Sun-Times, als erster Journalist begann, in dem zu recherchieren, was sich im Rückblick nicht mehr so einfach Kellys Privatleben nennen lässt. Es wurde allmählich öffentlich, auf eine Weise wie bei kaum einem anderen Popstar zuvor.

DeRogatis hat nie aufgehört, Investigativstorys über R. Kelly zu schreiben, zuletzt für BuzzFeed und den New Yorker, obwohl er im Hauptjob seit neun Jahren Dozent am English Department des Columbia College Chicago ist. DeRogatis sagt, ihn hätten die Schicksale der Frauen nicht losgelassen, deshalb habe er immer weitergemacht.

Anfang Juni erscheint in den USA nun das Ergebnis dieser fast 20 Jahre währenden Recherche, DeRogatis’ Buch Soulless: The Case Against R. Kelly. Der Titel macht sofort klar, auf welcher Seite DeRogatis sich wähnt: auf der eines journalistischen Anklägers. Die vielleicht größte Frage kann aber auch er in seinem Buch am Ende nicht wirklich beantworten: Wie kann es sein, dass R. Kelly offenbar in das Leben so unfassbar vieler Frauen eingreifen konnte auf eine Weise, die man mindestens im nicht juristischen Sinne als verbrecherisch bezeichnen würde? Und: Wenn stimmt, was ihm vorgeworfen hat, warum wurde ihm bis heute nicht das Handwerk gelegt?

Wann genau R. Kelly angefangen haben könnte mit dem, was so viele Frauen ihm vorwerfen, lässt sich heute nicht mehr sagen. Jim DeRogatis weiß aber noch genau den Tag, an dem er zum ersten Mal von einem konkreten Verdacht erfahren hat. Es war der 22. November 2000, ein Tag vor Thanksgiving, als DeRogatis ein Fax in die Redaktion geschickt bekam. “Lieber Mr. DeRogatis, ich sende Ihnen das hier, weil ich nicht weiß, an wen ich mich sonst noch wenden könnte”, hatte ein anonymer Verfasser oder eine anonyme Verfasserin darauf in englischer Sprache geschrieben. Und bis dahin nicht berichtete Dinge über den da längst bekanntesten Musiker der Stadt behauptet, R. Kelly, bürgerlich Robert Sylvester Kelly, damals schon Abermillionen verkaufte Platten: “Roberts Problem – und es reicht viele Jahre zurück – sind junge Mädchen.”

Ein Text, den man sich selbst nicht verzeiht

Wenige Monate zuvor, im Sommer desselben Jahres 2000, hat die Journalistin und Filmemacherin Dream Hampton R. Kelly einige Tage begleitet für ein Porträt über Kelly für das heute längst nicht mehr existierende Musikmagazin Vibe. Hampton schrieb dann eine begeisterte Titelgeschichte über Kelly, die in der Novemberausgabe 2000 des Magazins erschien, wenige Wochen vor den ersten Enthüllungsstorys von DeRogatis und Pallasch. Vor wenigen Monaten, im Januar 2019, hat Hampton in einem Interview mit der Website ThinkProgress im Rückblick über ihre Tage mit Kelly im Sommer 2000 gesagt: Es sei so gewesen, als sei sie in der Wohnung von Jeffrey Dahmer gewesen und habe vergessen, einmal den Kühlschrank zu öffnen. (Der amerikanische Serienmörder Dahmer hat zwischen 1978 und 1991 mindestens 16 Männer getötet und bewahrte unter anderem in seinem Kühlschrank Leichenteile der Opfer auf.)

Dream Hampton hat in demselben Interview gesagt, sie habe sich durch ihren unkritischen Text womöglich mitschuldig gemacht. Es scheint, als habe sie sich selbst diesen Text nicht verziehen. Fast 20 Jahre später hat sie nun die sechsteilige Doku-Miniserie Surviving R. Kelly produziert, die im Januar in den USA im Fernsehen lief und ab dem 18. Mai in Deutschland vom Spartensender A&E gesendet wird. Die Serie, sagt Jim DeRogatis, der an ihr nicht mitgewirkt hat, gebe den mutmaßlichen Opfern Kellys endlich ein Gesicht. Surviving R. Kelly hatte offenkundig auch entscheidenden Anteil daran, dass wenige Wochen nach der Ausstrahlung in den USA die Staatsanwaltschaft von Chicago im Februar 2019 erneut Anklage gegen R. Kelly erhoben hat. Wann der Prozess beginnt, ist nicht absehbar. Der Musiker selbst hat seine Unschuld in einem Fernsehinterview im März beteuert. Sein Anwalt Steven Greenberg ließ Anfragen von ZEIT ONLINE zu der aktuellen Anklage sowie zum Inhalt von Surviving R. Kelly und von DeRogatis’ Buch unbeantwortet.

Es ist nicht der erste Sexualstrafprozess gegen Kelly. Beim letzten Mal hat es sechs Jahre gedauert von der Anklageerhebung 2002 bis zur Verhandlung, die mit einem Freispruch der Geschworenenjury in allen 14 Anklagepunkten endete. R. Kelly waren damals das Anfertigen und der Besitz von Kinderpornografie zur Last gelegt worden.

Ich habe R. Kelly auch im Sommer 2000 getroffen, ungefähr zur selben Zeit also wie Dream Hampton. Es war frühmorgens, als ich den Aufnahmeraum des Musikstudios Chicago Trax betrat, um dessen damaligen Mitbesitzer zum ersten und letzten Mal zu interviewen, R. Kelly eben. Ich weiß den genauen Tag nicht mehr, weil keine Dokumente zu meiner Reise damals nach Chicago mehr existieren, E-Mails etwa, die ich mit Kellys damaliger Plattenfirma Jive ausgetauscht habe, Flugtickets, die Hotelbuchung; nicht einmal das Interviewband gibt es noch, die Kassette ist Jahre später zusammen mit Dutzenden anderen Kassetten mit Musikerinterviews bei einer Überflutung meines Kellers in Berlin vernichtet worden. Anlass des Interviews war Kellys Album TP-2.com, das im November 2000 erschien.

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