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Eurovision Song Contest: Lasst sie doch schreien

Manchmal sind Mehrheitsentscheidungen ja auch schlicht falsch, zum Beispiel beim diesjährigen Eurovision Song Contest in Tel Aviv. Die bestangezogenen Kandidaten für das Wettsingen am 18. Mai sind schon vorab ausgeschieden. Sie wurden am Dienstag im ersten Halbfinale von den Jurys und dem Publikum abgewählt. Es handelte sich um das portugiesische Duo Conan Osiris, zwei Männer in grün schillerndem Taft. Der eine sang leiernd über einem Beduinentechno, der andere zuckte und schlängelte sich dazu mit Elementen aus Breakdance, Contemporary und Kosakentanz. Bei älteren deutschen Betrachterinnen und Betrachtern musste das zwangsläufig sehr warme Gefühle erwecken – weil es in seinem vollverspulten Ethno-Eklektizismus ähnlich irre erschien wie weiland Dschinghis Khan von Dschinghis Khan, also jener Song, mit dem Deutschland vor genau 40 Jahren, 1979, an diesem Wettbewerb teilnahm, damals auch in Israel, wenngleich in Jerusalem.

Warme Gefühle von älteren Menschen aus Deutschland helfen allerdings nicht zum internationalen Erfolg, das gilt in den politischen ebenso wie in den popmusikalischen Fragen der Gegenwart. Darum findet das ESC-Finale eben ohne Conan Osiris statt. Es gibt aber immer noch genug andere Künstler und Künstlerinnen mit ähnlich experimentellen Kostümen, Bühnenbildern oder choreografischen Ideen zu bestaunen. Zum Beispiel die australische Sängerin Kate Miller-Heidke, die sich gemeinsam mit zwei begleitenden Tänzerinnen vor jedem Bühnenauftritt pfählen lässt, um ihr Lied Zero Gravity alsdann an der Spitze von vier Meter hohen Wackelstäben hinabzuschmettern. Oder den aserbaidschanischen Sänger Chingiz, der sich bei der Darbietung seines Liedes Truth von zwei flexiblen Roboterarmen begleiten lässt, die mit Laserstrahlen auf seiner Brust eine Herzoperation simulieren. Auf diese Weise wird das zentrale Motiv des Songtextes verbildlicht: dass Chingiz das Herz gebrochen wurde, und zwar von einer Frau. Dass die Täterin eine Frau ist, erkennt man natürlich daran, dass der Mann beim Singen vor einer stilisierten Vagina steht.

Von den Buchmachern hoch gehandelt wird der niederländische Kandidat Duncan Laurence mit seinem Lied Arcade, einer Herzschmerzballade mit dumpf eingepuschelten Bässen, Kinderchorbegleitung und Autotune-Jodeleinlagen; nüchtern betrachtet klingt der Song allerdings eher so, als ob nicht mal Coldplay ihn auf einer B-Seite unterbringen würden. Auch ansonsten leiden die ESC-Kandidaten und -Kandidatinnen viel an scheiternden Beziehungen und enttäuschter Liebe, und dabei geht es nicht nur um die Verhältnisse zwischen Sexualpartnern. Beispielsweise leidet der italienische Kandidat Mahmood an der enttäuschten Liebe zu seinem abwesenden Vater. Auch seine zu – für ESC-Verhältnisse – vergleichsweise komplexen elektronischen Rhythmen dargebotene Ballade Soldi wird von den Buchmachern und anderen Auguren des Festivals zu den Favoriten gezählt.

Über eine solche Aussicht würden sich die politischen Vertreter des Heimatlandes des Künstlers normalerweise einhellig freuen. Nicht so die aktuelle italienische Regierung – denn Mahmood hat einen Migrationshintergrund! Der in dem Lied besungene Vater ist aus Ägypten nach Italien gekommen, darum gibt es auch eine arabische Zeile in diesem Lied. Nachdem Mahmood damit schon im Februar den traditionsreichen Sanremo-Schlagerwettbewerb gewonnen hatte, twitterte der Innenminister und Chef der Lega-Partei, Matteo Salvini, dass dies ja wohl die falsche Entscheidung gewesen sei. Und der Vizepremier Luigio Di Maio vom Koalitionspartner Movimento Cinque Stelle sekundierte ihm auf Facebook mit der üblichen Elitenkritik: Weil der Sieg in Sanremo auf einem Juryurteil basierte, sah Di Maio einmal wieder die übliche Verachtung gegenüber den Wünschen des einfachen Volkes am Werk.

Dabei stören sich die Vertreter der Rechtsregierung nicht nur an der Tatsache, dass Mahmood kein autochthoner Italiener ist, sondern auch daran, dass es in seinem Song einige Rap-Passagen gibt – und Rap wird von ihnen generell als “unitalienische Musik” angesehen.

Deutlich aufgeschlossener gegenüber multikulturellen musikalischen Wechselwirkungen als die italienischen Rechten sind die Angehörigen des am Polarkreis lebenden Volkes der Samen: Einer der beliebtesten samischen Popmusiker ist nämlich der in seiner Muttersprache rappende Fred-René Buljo. Er begann seine Karriere im Rapduo Duolva Duottar, betätigte sich zwischendurch als Solist und ist nun Teil des Trios KEiiNO, das in diesem Jahr das Land Norwegen beim ESC vertritt. Eine Weile lang saß Buljo auch als Abgeordneter im Sameting, dem Parlament der samischen Minderheit im norwegischen Karasjok; in all dieser Zeit wurde ihm niemals vorgehalten, dass seine Musik unsamisch ist. In ihrem Wettbewerbsbeitrag Spirit in the Sky loben die beiden anderen Mitglieder von KEiiNO, Tom Hugo und Alexandra Rotan, auf Englisch zu flotten EDM-Rhythmen die Schönheit der Polarlichter, während Fred-René Buljo mit samischen Sprechgesangspassagen hinzutritt.

Auch KEiiNO werden gute Aussichten auf einen der vorderen Plätze zugesprochen – anders als dem deutschen Beitrag, der nach allgemeiner Einschätzung nur deshalb überhaupt ins Finale gekommen ist, weil Deutschland zu den Big Five gehört, also zu den fünf Nationen mit den höchsten Zahlungen an die European Broadcasting Union. Deswegen müssen die Kandidatinnen und Kandidaten aus Deutschland (und aus Frankreich, Spanien, Großbritannien und Italien) sich nicht im Halbfinale bewähren.

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