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Lehrer: Frau Wagner macht Stress

Man würde es gern diplomatischer formulieren, es geht aber nicht: Sigrid
Wagner hält ihre Kollegen für Versager. Für unfähig und intrigant. Wagner ist 63 Jahre alt,
eine Lehrerin im Ruhestand. Sie hat an 14 Schulen unterrichtet, und sie habe das immer mit
Freude getan, sagt sie. Sie hätte gern noch einige Jahre länger gearbeitet: “Ich stünde bis 80
vor der Klasse, wenn die anderen Lehrer nicht wären.”

Statt weiterhin zu unterrichten, hat Sigrid Wagner im vorigen Jahr daher etwas getan, was man gemeinhin nicht macht. Sie ist öffentlich über ihren gesamten Berufsstand hergezogen.
Das Problem sind die Lehrer
– so heißt das Buch, das sie geschrieben hat. Es hat eingeschlagen. Bildungsforscher nahmen Stellung, Gewerkschaftsvertreter auch. Demnächst erscheint es in zweiter Auflage.

Wagner schreibt darin derart bissig, manchmal regelrecht bösartig, dass sich unweigerlich die Frage stellt, was sie selbst dazu motiviert haben könnte, dergleichen zu Papier zu bringen. Warum arbeitet jemand 22 Jahre lang im Schulsystem, so wie sie, um hinterher alles in Schutt und Asche zu analysieren, was sie dort erlebt hat?

“In Deutschlands Lehrerzimmern herrschen Inkompetenz, Neid und Machtmissbrauch”, so bewirbt Rowohlt, Wagners Verlag, ihre Streitschrift. Lehrer schafften mit Machtspielen ein Klima der Angst, das nachhaltiges Lernen konterkariere. Liest man das ganze Buch, wird das Urteil nicht gnädiger, im Gegenteil. Die Frau pauschalisiert radikal, und sie steht dazu: “Der Schulalltag Hunderttausender Kinder wird geprägt von Frauen und Männern, die langweiligen Unterricht machen, die ihre Schüler traktieren, die träge sind.” Sicher, es gebe auch die anderen, die motivierten und begeisternden Lehrer, schreibt Wagner. “Meiner Erfahrung nach ist es aber leider nicht die Regel, dass unsere Kinder von solchen Prachtexemplaren durch die Schuljahre begleitet werden. Öfter sind sie Pädagogen ausgeliefert, denen man im Alltag kein zweites Mal begegnen möchte.” So geht das in einem fort – 270 Seiten lang.

Nun darf man nicht den Fehler machen, sich Sigrid Wagner als verbitterte ältere Kneifzange vorzustellen, die am Ende des Berufslebens vor den Scherben ihrer Karriere steht. Es ist, ironischerweise, eher das Gegenteil der Fall. Sigrid Wagner hat kleine Lachfältchen um leuchtend blaue Augen: Sie wirkt wie jemand, der überaus mit sich im Reinen ist. In ihrer sonnendurchfluteten Dachgeschosswohnung in Münster hört man Wellensittiche zwitschern, auf dem Teppich schläft schniefend ein kleiner Mops.

“Glauben Sie bitte nicht, dass ich es mir leicht gemacht habe”, sagt sie. Leider habe sie aber selbst erleben müssen, dass viel dran sei an den übelsten Klischees über Lehrer, dass sie selbstgefällig seien, unmotiviert und arrogant. Denn: “Den meisten Menschen fallen, wenn sie an ihre Schulzeit denken, zwei bis drei gute Pädagogen ein. Mehr nicht. Das ist doch eine erbärmliche Quote.”

Über kaum eine andere Berufsgruppe wird so viel publiziert wie über Lehrer. Irgendetwas an ihnen ist derart interessant und gleichzeitig nebulös, dass Jahr für Jahr neue Enthüllungs- oder Ratgeberbücher den Markt fluten. Da ist
Das Survival-Handbuch für Lehrer
oder
Nein, du gehst jetzt nicht aufs Klo,
da ist ein
Lehrer-Kochbuch
mit Rezepten eigens für Pädagogen oder auch
Lehrerdämmerung
– eine Anklageschrift mit der Unterzeile: “Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet”.

Die Suche nach der Frage, woher dieses Interesse kommt, führt in einen mystischen Raum, eine Blackbox: das Lehrerzimmer. Hierhin verschwinden Pädagogen nach einer Unterrichtsstunde, hier tauschen sie sich miteinander aus, erzählen Geschichten über Schüler und Eltern, entscheiden in Notenkonferenzen, wer sitzen bleibt, wer weiterkommt. Alles, natürlich, hinter verschlossener Tür.

Sigrid Wagner blickt hinter diese Tür. Sie schildert den Rückzugsort der Pädagogen als regelrecht toxischen Raum – von dem aus sich der Frust durch die Schule ausbreitet wie eine giftige Flüssigkeit. Hier würden Machtkämpfe ausgetragen: Die strengen Lehrer befänden sich quasi im Dauerkrieg gegen die nachsichtigen. Wagner erinnert sich an eine Kollegin, eine Kunstlehrerin, die mit Kindern aufwendig ein Mosaik auf dem Schulhof entwarf. Toll habe das ausgesehen, und die Schüler waren begeistert. Aber: “Die hat sich damit nur Feinde gemacht in der Lehrerschaft”, sagt Wagner. Gar zu engagierte Pädagogen würden von ihrem Kollegium nämlich gebremst, behindert, manchmal sogar gemobbt. Als sie selbst es einmal geschafft habe, in einer Klasse voll schwieriger Schüler die Leistungen und damit die Zensuren vieler Jungen zu verbessern, seien einige Kollegen so misstrauisch geworden, dass sie hinter Wagners Rücken eine Lehrerkonferenz herbeiführten und sie zur Rede stellten. Wagners Erfahrung: Nach zwei Monaten an einer Schule sei jeder noch so engagierte Referendar im Herzen demoralisiert.

Je länger man mit ihr zusammensitzt, desto intensiver drängt sich die Frage auf, wo eigentlich ihre eigenen Maßstäbe liegen. Und welchen sie selbst gerecht wird.

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