/“Der Boden unter den Füßen”: Opfer der Selbstoptimierung

“Der Boden unter den Füßen”: Opfer der Selbstoptimierung

Da ist dieser Schreck direkt nach dem Aufwachen. Lola (Valerie Pachner) reißt die Augen auf, zerrt ihre Selbstkontrolle zurecht. Und
schon joggt sie im Morgengrauen durch Wien, sortiert akkurat die Wäsche
im Rollkoffer, um wenig später in ihrer Firma in Rostock einzutreffen.
Routinierte Handgriffe, High Heels, Businesskostüm: Lola ist Vollprofi.
Unternehmensberaterin, Ende 20.

Eine
schmale, blasse, toughe Frau. Lola ist schnell und effizient, die Beste
in der Firma. Die kahlen Wände in ihrer Wiener Wohnung signalisieren
ebenso wie das kühle Design von Marie Kreutzers Psychodrama Der Boden
unter den Füßen
: Privatleben oder Familie kennt Lola nicht. Will sie
auch nicht. Am ehesten fühlt sie sich in Hotelzimmern zu Hause, sagt
sie.

Was die anderen nicht wissen: Lola hat eine psychisch kranke Schwester, Conny (Pia Hierzegger),
Diagnose paranoide Schizophrenie. Wahnvorstellungen,
Verschwörungstheorien, Pillencocktails, das ganze Programm. Nach einem
Suizidversuch landet Conny im Spital. Außerdem hat Lola hat eine
heimliche Beziehung zu ihrer Teamchefin Elise (Mavie Hörbiger).
Roomservice, schneller Sex, kurzer Schlaf, “Guten Morgen, Schöne” – und
in der Frühe schleicht sie auf Strümpfen über den Hotelflur.

Als Der Boden unter den Füßen dieses Jahr auf der Berlinale im Wettbewerb lief,
behagte einem die Figurenkonstellation zunächst überhaupt nicht. Hier
zwei aalglatte Karrierefrauen – Elise trägt das blonde Haar noch
straffer nach hinten gebunden –, die souverän in den Vorstandsetagen
aufzutreten wissen. Dort ein psychisches Wrack in der Klinik: Conny
löffelt Anstaltsfraß, trägt Einhorn-Sweatshirt, bedrängt ihre Schwester,
sie möge sie mit zu sich nehmen, terrorisiert sie auch telefonisch und
dichtet Verse wie “Ich will nicht mehr, lasst schlafen mich”. Frauen mit
Macht haben kein Herz, und Frauen mit Herz sind zu schwach für diese
Welt? Es sieht reichlich stereotyp aus.

Aber bei genauerem Hinschauen entstehen andere Bilder. Nach und nach
entzieht die österreichische Filmemacherin auch der Zuschauerin den
Boden unter den Füßen. Es fängt an mit dem Schreckmoment am Morgen, dem
Porträt einer Läuferin auf den leeren Straßen der Großstadt, es geht
weiter mit kleinen Irritationen. Ein kaputter Schuh, eine
heruntergefallene Akte, und hinter Lolas perfektem Ich kommt ein Mensch
zum Vorschein, überfordert, einsam, trotzdem energisch. Die permanente
Selbstoptimierung trägt Züge eines Gewaltakts.

Autoaggression und
Autosuggestion, Abwehr und Sehnsucht: Wie kann es sein, dass sie mitten
in wichtigen Sitzungen Handy-Anrufe von Conny bekommt, obwohl die
Patienten des Otto-Wagner-Spitals nachweislich keinen Zugang zu
Telefonen haben? Lola sucht eine Psychiaterin auf, flieht gleich wieder
und beginnt, kleine Kompromisse mit Connys Bedürfnissen zu schließen.

Die
beiden wuchsen als Waisenkinder auf, es war Conny, die sich damals um
Lola kümmerte. Jetzt hat die Jüngere die Vormundschaft über die Ältere.
Schwestern oder die Balance des Unglücks. Sind es zwei Facetten einer
Seele, ja Seelenpein?

Die blonde Lola, eine Hommage an Hitchocks “Marnie”

Lola
bleibt eine Täterin, ein Unhold. Die panische Jobverlust-Frage einer
alleinstehenden Mutter pariert sie mit dem gestanzten Satz: “Die
individuelle Lebenssituation kann bei der Rettung eines Unternehmens
nicht im Detail berücksichtigt werden.” Marie Kreutzer setzt die Welt der Unternehmensberater
genauso in Szene, wie Nicht-Unternehmensberater sie sich vorstellen.
Intrigant, eiskalt, kräfteverzehrend – eine 48-Stunden-Schicht ohne
Schlaf heißt im Firmenjargon “Forty eight” – und eine kräftigen Prise
Sexismus. Aber dass der Machtmissbrauch auch unter Frauen stattfindet,
straft die Stereotypen endgültig Lügen. Gleichzeitig umgibt die
Regisseurin, die selber das Buch schrieb, ihre Heldinnen mit einer fast
dämonischen Stille, mit narrativen Ellipsen und Hitchcock’scher
Suspense. Dass auch Lola ihr Haar blond färbt, möchte Kreutzer als
Referenz an Tippi Hedren in Marnie verstanden wissen.

Kreutzer
hat in Interviews auch erzählt, dass die lesbische Büro-Beziehung von
Lola und Elise Zufall ist. Im Drehbuch war es ein Mann, aber es fand
sich kein geeigneter Schauspieler, also trat Mavie Hörbiger auf den
Plan. Es geht gar nicht um Frauenbilder, sondern um Menschen, die ihre
Identität ihrem Beruf opfern. Hörbiger versieht Elise mit ebenjener
Mischung aus krankhaftem Ehrgeiz und gesunder Restnormalität, die sie
zur idealen Sparringspartnerin von Lola macht.

Und wie Valerie Pacher ihr Gesicht zur Maske verhärten kann, ohne sich ganz zu
verschließen, wie sie bei allem Kalkül unberechenbar bleibt bis zum
Schluss, das ist einfach großartig.

“Der Boden unter den Füßen” läuft ab 16. Mai in deutschen Kinos.

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