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Camp: Träume von Größe und Andersheit

Als Bob Benny 1959 erstmals beim Eurovision Song Contest für Belgien sang, wusste die breite Öffentlichkeit nichts über seine sexuelle Orientierung. Er outete sich erst 2001. Deutschland startete 1960 mit einem Lied in den Wettbewerb, dessen Text Kurt Schwabach schrieb, Bonne Nuit, Ma Chérie. Schwabach, bürgerlich Schneider, war immerhin Co-Autor von Das Lila Lied, einer frühen Schwulenhymne aus dem Jahr 1921, die im Gegensatz zum Schlager von 1960 unmissverständlich blieb: “Wir aber wissen nicht, wie das Gefühl ist, denn wir sind alle andrer Welten Kind; wir lieben nur die lila Nacht, die schwül ist, weil wir ja anders als die andern sind.” Erschienen war das Lied im Katalog einer Plattenfirma namens Homocord. Berlin, 1921!

Die Akzeptanz sexueller Abweichung wächst nicht linear in der Geschichte, auch nicht in Gesellschaften mit einem liberalen Selbstbild. Selbst das heutige Berlin ist nicht überall so queer friendly, wie es wohl heute heißt und in Kulturkreisen gern geglaubt wird.

Die Geschichte der Popkultur ist reich an ursprünglich homosexuellen Ästhetiken, die im Underground geboren werden und dann den Mainstream hacken. Schwul ist meist die Avantgarde. Doch auch Heteros und alle anderen schätzen es, ihr jeweiliges Gefühl der Abweichung durch – ironische, kitschige, schillernde – Bejahung darzustellen. Und dem Ernst der Lage mit einem Spiel der Uneigentlichkeit und der unernsten Übertreibung zu begegnen, um damit Diskriminierung auszuweichen. Es gibt viele Wörter, fast nur englische, für dieses Spiel: too much, larger than life, over the top. Oder camp.

Wenn am Samstag in Tel Aviv das Finale
des Eurovision Song Contest (ESC) über die Bühne geht, wird auch diese Frage eine
Rolle spielen: Was ist Camp? Nach dem ersten Halbfinale lässt sich sagen, dass Camp bei bester Gesundheit ist. Katerine Duska tritt für
Griechenland
mit einer gepressten Stimme an, die gerade in der mangelnden
Perfektion die viel zu großen, eben campy Gesten betont, während die Rüschen,
das rosa Bühnenbild und die Degen der Tanztruppe den Rahmen des guten
Geschmacks lustvoll sprengen. Der
türkische Serhat, für San Marino am Start, schafft mit dem prekären
Sprechgesang in der Disconummer Say Na Na Na eine Fallhöhe, die man in Zeiten
von Autotune und Studioperfektion gar nicht mehr kennt. Und was ist davon zu
halten, wenn die Isländer der Gruppe Hatari in Sadomasokostümen eine Pyroparty
abfackeln, als wäre der ESC ein antiimperialistischer Umzug zum Ersten Mai? Kann
jetzt auch der schwarze Block Camp sein?

Camp ist ein extrem dehnbarer Begriff.
Das erklärt seinen Erfolg. Aber auch seine Offenheit für Missverständnisse bis
hin zu politischer Indienstnahme. Letzteres passiert gerade in Israel, wenn der
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den potenziell queeren ESC dazu benutzt,
seine autoritäre Politik mit einer Toleranzschleife zu schmücken. Natürlich
weiß die Regierung, dass auch israelkritische Linke plötzlich ein bisschen
mehr in Sorge sind als sonst, dass die Hamas zum ESC-Finale sogar Tel Aviv
angreifen könnte. Denn eigentlich wollen ja alle nur eine überbordende Show
sehen, die superschnell zwischen spießig und cool changiert. Und genau in
diesen legitimen Hedonismus grätschen die politischen Kräfte hinein. Die
Israelis und Tel Aviv als Homometropole kann man damit kaum schrecken. Aber da
sind noch 20.000 andere zu Besuch und 200 Millionen vor den Bildschirmen. Wozu
Camp vor Millionen?

Oder Camp von Millionären? Einige
Antworten gab es dazu letzte Woche in New York City bei der alljährlichen Met Gala. Lady Gaga brauchte
sensationelle 16 Minuten und 3 Kostümwechsel, um die Stufen des Metropolitan Museums of Art heraufzukommen. Kim Kardashian trug ein Kleid von Thierry Mugler, in dem neun Monate Arbeit stecken und das so nass aussah, als würde es
gleich die Treppe voll tropfen. Die Met Gala ist die berühmteste Benefizparty der Stadt,
organisiert von Anna Wintour, der
Chefredakteurin der US-amerikanischen Ausgabe der Modezeitschrift Vogue. Die
Karten kosten 30.000 US-Dollar, der Erlös fließt nicht in humanitäre Projekte,
sondern in die Kostümabteilung des Museums. Die Gala ist ein Fundraiser für
die Geschichte der Gewänder, der Masken, der Mode. Das Motto in diesem Jahr
lautete passgenau Camp: Notes on Fashion.

Wo wäre das möglich außer in New York, der Welthauptstadt der künstlerischen Avantgarden, aber auch des Geldes?
Wo leuchtet es so sehr ein, eine Glitzergala nach einem intellektuellen Essay
von 1964 zu benennen, Notes on Camp von Susan Sontag? Sie beschrieb als Erste ausführlich Camp als “Erlebnisweise” von einst mehrheitlich homosexuellen
Subkulturen. Deren Strategie: in der prüden Ästhetik der heterosexuellen
Mehrheitsgesellschaft die Flamboyanz freizulegen, im Mittelmaß versteckte
Träume von Größe und Andersheit zu entlarven. Camp macht spielerisch und in eleganten Codes selbst die
Norm als Verkleidung kenntlich, zeigt die queeren Anteile von straighten
Phänomenen. Und sagt im Fall von meist weißem Männer-Camp zwei Dinge: Wir sind
durchaus anders, aber ihr seid alle auch ein bisschen schwul in euren
Spießerkostümen, nicht wahr? Camp träumt(e) von Integration und Differenz
gleichzeitig.

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