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Bundesrepublik: Mehr Unzufriedenheit, bitte!

70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Mauerfall: Wir wollen die großen
historischen Jubiläen dieses Jahres als etwas Zusammenhängendes
betrachten. Deshalb starten wir die Serie “Deutschland 70/30”. In diesem Artikel analysiert der Historiker Philipp Gassert die Stimmung, die an früheren Jahrestagen der Bundesrepublik vorherrschte. 

Jedes runde Jubiläum der Republik hat seine eigene Signatur. Um 2009 war die Stimmung
am besten, der Hang zur Selbstgratulation am größten. Der Titel Die geglückte
Demokratie
(2006) des Zeithistorikers Edgar Wolfrum
verlieh dem Jubiläum Textur:
Trotz der Weltfinanzkrise wirkten die deutschen Verhältnisse unübertroffen gut.

Triumphalismus lag bereits 1999 in der Luft. In dem monumentalen Zweibänder des
Haushistorikers der Berliner Republik, Heinrich August Winkler, sah sich das
Land auf seinem Langen Weg nach Westen (2000) endlich im Kreis der liberalen
Demokratien angekommen. Das erinnerte an das bemüht stolze “Wir sind wieder wer!”
der Fünfzigerjahre. Auch der eher kritische, linksliberale Historiker Axel Schildt sprach angesichts der multiplen Belastungen, mit denen die frühe
Republik hatte zurechtkommen müssen, nur leicht ironisch gebrochen von der Ankunft
im Westen
(1999) als einer “Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik”.

Ganz anders
vor 1989. Eigenlob war der Bonner Republik eigentlich suspekt. An deren Erfolg wollten
vor allem viele intellektuelle Beobachter einschließlich der Historiker so recht
nicht glauben. Die Kohl-Regierung gab 1988/89 zwar die Devise aus, 40 Jahre Grundgesetz
seien Anlass zum freudigen Feiern. Die Resonanz war verhalten. Der Adenauer-Biograf
Hans-Peter Schwarz bemerkte in seinem brillanten Essay Die ausgebliebene
Katastrophe
(1990), dass viele dem Frieden nicht recht getraut hätten, trotz
der offenkundigen Stabilität nach zwei demokratischen Regierungswechseln 1969
und 1982.

Die Gefährdungen wirkten vor 1989 stets zahlreich, riesig und
existenziell: Eben jener Helmut Kohl, der die Westdeutschen zu mehr
“unverkrampftem Patriotismus” ermutigte und mit großen, anfangs viel
kritisierten Museumsprojekten zur republikanischen Traditionsvergewisserung
objektiv viel beigetragen hat, hatte noch 1982 in der Kritik an seinem
Vorgänger Helmut Schmidt die BRD auf dem verhängnisvollen Weg zum “Staatsnotstand”
gesehen.  

Eine Ära großer Anspannung

Die heute in
nostalgischen Sepiatönen erinnerte Wirtschaftswunderzeit war eine Ära großer
Anspannung und Unsicherheit. Als 1959 das Grundgesetz zehn Jahre alt wurde, schacherten
die Bonner Parteien um die Nachfolge von Bundespräsident Theodor Heuss; Konrad Adenauer,
von innerparteilichen Gegnern angeschossen, hoffte auf Verlängerung seiner
politischen Halbwertszeit, indem er sich selbst als Inhaber eines um Kompetenzen
erweiterten Präsidentenamts ins Gespräch brachte: eine Rochade Putinschen
Ausmaßes, die die Bonner Ordnung ins Mark getroffen hätte.   

Kurz zuvor hatten im
nervösen Zeitalter der Fünfzigerjahre Millionen Menschen gegen atomare Ausrüstungspläne
für die Bundeswehr protestiert, weil sie ein deutsches Hiroshima befürchteten.
Noch näher rückte der Weltuntergang, als 1962 in der Kubakrise ein “atomarer
Holocaust” gerade noch einmal abgewendet wurde. 

“Nationale Katastrophe”, “no future”

Die
Geschichte der Republik ließe sich als die Geschichte einer permanenten Alarmhaltung
schreiben. In den Sechzigerjahren sahen breit rezipierte Deutungen die Demokratie
mehrfach kurz vor dem Aus.

Ein zuverlässiger Mahner war der Philosoph Karl Jaspers, der 1966 in Wohin treibt die Bundesrepublik? das von ehemaligen
NS-Tätern geprägte Land in einen neuen Faschismus zurückfallen sah. Er schien recht
zu behalten, als 1969 die NPD den Einzug in den Bundestag nur knapp verpasste,
nachdem sie seit 1967/68 in mehreren Landtagen saß. Gleichzeitig riefen die
Notstandsgesetze nicht nur bei den 68ern Erinnerungen an die NS-Zeit wach. In den Siebzigerjahren wiederum zeichnete das Unionslager die sozialliberale Ostpolitik
in düstersten Farben als “nationale Katastrophe”. Fast vergessen sind die
umwelt- und wirtschaftspolitischen Krisenszenarien der Siebzigerjahre, die in
Kombination mit dem RAF-Terrorismus das Land in einen gefühlten Ausnahmezustand
versetzten. In den Achtzigerjahren drohten “saurer Regen” und erneute atomare Überrüstung
der damals jungen Generation die Zukunft zu rauben (“no future“).

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