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Konjunktur: Da geht noch mehr

Manchmal fühlt man sich in diesen Tagen mental in die frühen Nullerjahre
zurückversetzt. Für die Jüngeren: Das war die Zeit, in der in Deutschland über fünf Millionen
Menschen keine Arbeit hatten, die Staatsschulden explodierten und die ökonomische Misere des
Landes das Dauerthema in den Fernsehtalkshows war.

Heute warnt die
Bild-Zeitung angesichts neuer Schätzungen über die Entwicklung der Steuereinnahmen vor einem “Riesen-Haushaltsloch”, die amerikanische
Businessweek
glaubt, dass in Deutschland die “letzten Tage einer Ära” begonnen haben, und der
Spiegel
zeigt auf seinem aktuellen Cover einen zerrupften Bundesadler, der den letzten Tropfen aus einer Champagnerflasche schüttelt. Titelzeile: “Die fetten Jahre sind vorbei”.

Sind sie das?

Tatsächlich häuften sich zuletzt die schlechten Nachrichten. Die Bundesregierung musste ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum wiederholt nach unten revidieren. Nur noch um ein halbes Prozent wird das deutsche Bruttoinlandsprodukt demnach in diesem Jahr zulegen, im vergangenen Jahr war man noch von einem Plus von fast zwei Prozent ausgegangen. Damit liegen die Deutschen in der Europäischen Union an vorletzter Stelle, sogar hinter den krisengeplagten Griechen. Danach kommt nur noch Italien.

Deutsches Bruttoinlandsprodukt in Billionen Euro

Quelle: fred.stlouisfed.org © ZEIT-Grafik

Aber: Die niedrige Wachstumsrate sagt mehr über die Vergangenheit aus als über die Zukunft. Die Korrektur der jüngsten Wachstumsprognose liegt nämlich vor allem an eher kurzfristigen Ereignissen im vergangenen Winter. Auf den internationalen Finanzmärkten verunsicherte da die Furcht vor neuen Zinserhöhungen der amerikanischen Notenbank Federal Reserve die Investoren. Und in Deutschland wurden neue Abgastests für die Automobilindustrie eingeführt. Das hatte zur Folge, dass viele Hersteller vorübergehend die Produktion drosselten, um die Umstellung auf die neue Technologie in den Griff zu bekommen.

Inzwischen ist dieser Prozess weitgehend abgeschlossen – und die Bänder in den Fabrikhallen laufen wieder hoch. Das zeigt sich auch in den Zahlen. So hat das Statistische Bundesamt in dieser Woche mitgeteilt, dass die deutsche Wirtschaftsleistung im ersten Quartal dieses Jahres wieder ordentlich gewachsen ist.

Vieles deutet derzeit darauf hin, dass es vorerst einmal so weitergeht. Zwar leidet die Exportwirtschaft unter den Strafzöllen des amerikanischen Präsidenten und dem drohenden Ausscheiden der Briten aus der Europäischen Union. Dafür berichten die deutschen Unternehmen von guten Geschäften im eigenen Land: Die Löhne steigen, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, und die Bauwirtschaft boomt. Die Experten der Investmentbank Barclays Capital gehen davon aus, dass das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Halbjahr möglicherweise sogar noch anzieht. Eine Rezession, also einen Rückgang der Wirtschaftsleistung, halten sie für eher unwahrscheinlich.

Auch die Lücke im Staatsetat ist bei genauerer Betrachtung kleiner, als sie auf den ersten Blick erscheint. Im Vergleich mit der letzten Steuerschätzung vom vergangenen Herbst fehlen dem Bund zwar bis 2023 gut 70 Milliarden Euro. Das ist die Zahl, die in der vergangenen Woche öffentlich die Runde machte. Was dabei aber nicht berücksichtigt wurde: Ein großer Teil dieser Ausfälle ist von der Regierung in der laufenden Haushaltsplanung bereits einkalkuliert worden. Das eigentliche Etatloch beläuft sich nach Schätzungen des Finanzministeriums auf gerade einmal 10,4 Milliarden Euro – verteilt auf einen Zeitraum von fünf Jahren.

Einen solchen Betrag aufzutreiben ist bei einem jährlichen Volumen des Bundeshaushalts in der Größenordnung von 356 Milliarden Euro keine schwierige Aufgabe. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass die Regierung noch genug Geld übrig hat für zusätzliche und noch nicht geplante Ausgabenprogramme wie die Grundrente oder eine Komplettabschaffung des Solidaritätszuschlags – zumindest wenn sie das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts nicht aufgeben will. Aber umfangreiche Sparrunden sind aller Voraussicht nach nicht nötig und von Bundesfinanzminister Olaf Scholz auch nicht geplant. Zumindest jetzt nicht.

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