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China: Die EU als permanente Provokation

Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie
arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie
berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr
berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter
einem Pseudonym.

In der
chinesischen Öffentlichkeit hält sich das Interesse an der Europäischen Union –
wohlgemerkt, an der Union, nicht an den einzelnen Mitgliedsstaaten – in engen
Grenzen. Auf Weibo, dem chinesischen Gegenstück zu Twitter, hat die Delegation
der EU nur etwa 186.000 Follower. Im Vergleich keine
besonders hohe Zahl. Die Deutsche Botschaft hat mehr als 195.000 Follower, die
französische mehr als 300.000, die US-Botschaft mehr als 2,4 Millionen. Selbst die
Internettrolle zeigen beim Hinterlassen bösartiger Kommentare unter EU-Posts
weniger Eifer als bei solchen der USA. In den vergangenen Jahren ist die EU in der öffentlichen Wahrnehmung in China immer
stärker mit Krise assoziiert worden. Das größte Problem der Europäischen Union in China ist nicht, missverstanden zu werden – obwohl dies oft geschieht.
Das Problem ist, ignoriert oder als instabiles Bündnis mit hohen, aber naiven
Idealen abgetan zu werden, bestehend aus Staaten in wirtschaftlichen Nöten mit
untragbaren Sozialsystemen und einem zu schwachen Beitrag zur globalen
Sicherheit.

Der
offensichtlichen Verständnishindernisse wegen – der kulturellen Unterschiede,
der Sprachbarriere und des komplexen und gewagten Aufbaus der politischen
Strukturen der EU selbst – orientiert sich die Wahrnehmung der EU durch die
chinesische Öffentlichkeit oft an den widersprüchlichen Verlautbarungen und
Strategien der chinesischen Regierung. Diese sind Ergebnis pragmatischer
Diplomatie und eines fortwährenden ideologischen Wettkampfes mit dem Westen.

Im September
2017 kam es zwischen dem damaligen deutschen Außenminister und Vizekanzler
Sigmar Gabriel und der chinesischen Regierung zu einem höchst undiplomatischen
Austausch. In der Sorge, die 16+1, ein Verbund aus 16 mittel- und
osteuropäischen Ländern unter chinesischer Führung, könnten unter Ausnutzung
der wachsenden Spannungen zwischen Ost und West die Regeln der Union
untergraben, mahnte Gabriel in Peking mehr Respekt für die Politik des “Einen
Europa” an. Er fügte hinzu: “Wenn es uns nicht gelingt, eine eigene Strategie
mit Blick auf China zu entwickeln, dann wird es China gelingen, Europa zu
spalten.”

Die Reaktionen
aus China waren halb indigniert, halb spöttisch. Ein Sprecher des
chinesischen Außenministeriums namens Hua Chunying fragte Gabriel, ob es ein
anderes Land gebe, dass die europäische Integration verlässlicher,
entschlossener und bedingungsloser unterstützt habe als China. Der Leiter der
Europaabteilung im Pekinger Institut für Internationale Beziehungen, Cui
Hongjian, schrieb für die Global Times einen ähnlich ausgerichteten, aber
schärfer formulierten Kommentar: “Durch Herrn Gabriels große Theorie ist uns
wenigstens klarer geworden, dass manche Europäer und sogar Angehörige der
politischen Elite in ihrer Angst die Schuld bei anderen abladen, wenn sie
innen- und außenpolitisch in Schwierigkeiten geraten.” Sowohl Hua als auch Cui spotteten, Gabriel verwechsele Europa mit der Europäischen Union.

Der Protest der
chinesischen Regierung war nicht völlig unaufrichtig oder falsch. Eine
Untersuchung der Universität Leiden
aus dem vergangenen Januar ergab, dass
chinesische Politiker und Europafachleute die EU seit über einem Jahrzehnt als
Musterbeispiel für regionale Integration und einen vielversprechenden neuen Pfeiler der politischen Weltordnung betrachten. Und das trotz Eurozonenkrise,
Flüchtlingskrise und Brexit, die den Anschein erweckten, die EU als Akteur in Nöten könne existenzbedrohende Krisen nicht bewältigen und sei für eine
Führungsrolle jenseits der eigenen Grenzen nicht geeignet. Nach der EU-Ausweitung von 2005 war in China die Zahl der
wissenschaftlichen Untersuchungen zur europäischen Integration in die Höhe geschnellt, und
viele davon empfahlen die EU als einzigartige supranationale Organisation, von
der man für den Asean-Verband oder regionale innerchinesische Kooperationen
lernen könne.

Auch auf dem
Papier macht Pekings Haltung zur EU einen freundlichen Eindruck. Die dritte
politische Direktive zur Europäischen Union von Ende 2018 enthält eine sehr
positive Beschreibung: “Mit ihrem hohen Grad an Integration und ihrer
allgemeinen Stärke spielt die Europäische Union in der internationalen Arena
eine strategisch wichtige Rolle. Ereignissen wie dem Brexit zum Trotz bleibt
die EU weiter der Integration verpflichtet, hat auf Anfechtungen mit Reformen
reagiert und regional und international eine herausragende Rolle gespielt.” Der
EU wird eine ebenso wichtige Rolle für eine multipolare und globalisierte Welt
zugeschrieben wie China, und es heißt: “Die Festigung der Beziehungen zur EU
gehört seit Langem zu Chinas politischen Prioritäten.”

Über die
chinesische “Teile und herrsche”-Politik aber sprechen chinesische Politiker
und Berater nur selten offen. Was nicht bedeutet, dass sie nicht aktiv verfolgt
wird. Als Griechenland 2017 eine kritische Erklärung zur Lage der
Menschenrechte in China bei den Vereinten Nationen blockierte, wurde sehr
deutlich, wie weit China die EU untergraben hat. Die 16+1-Initiative braucht
nur noch zwei weitere EU-Mitglieder, dann könnte sie das Abstimmungsverhalten
der EU kontrollieren. Diese 13 würden genügen, um alle qualifizierten
Mehrheitsentscheidungen zu blockieren, also ungefähr 80 Prozent der
EU-Gesetzgebung.

Auch
schriftliche Belege lassen sich finden. In einem Artikel aus den China Business
News
von 2013 beschrieb Wang Yiwei, ein ehemaliger hochrangiger, in die
Europäische Union entsandter Diplomat, Politikberater und Wissenschaftler, wie
China im Handelskrieg mit der EU auf dem Gebiet der Photovoltaik zurückschlagen
solle. “Teile und herrsche” war einer seiner Vorschläge: “Die Konflikte unter
den EU-Mitgliedsstaaten und die Spannung zwischen Grundhaltung und
tatsächlicher Wettbewerbsfähigkeit kann China sich zunutze machen. Die
EU-Haltung gegen Dumpingpreise ist mehr politischer Standpunkt als
Handlungsanweisung. China sollte seine Kenntnisse der einzelnen
EU-Mitgliedsstaaten vertiefen und unter den EU-Mitgliedern die verschiedenen
Lager nach Streitpunkten und Branchen herausarbeiten, um die EU über ihre
internen Konflikte teilen und beherrschen zu können.”

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