/Enteignung: Das ist kein Sozialismus, das ist liberal!

Enteignung: Das ist kein Sozialismus, das ist liberal!

Die Aufregung um Kevin Kühnert und seine vermeintlichen
Verstaatlichungsforderungen
kulminierte in einem Witz. In den Tagen der
“Enteignungsdebatte” fand er sich – in verschiedenen Formen und Formulierungen
– immer wieder in den sozialen Netzwerken. Ironisch kommentierte er den
Umstand, dass sich nun so viele Leute darüber aufregten, dass ausgerechnet ein
Mitglied der “Jungsozialisten” eine sozialistische Politik gutheiße.

Der eigentliche Witz aber lautet: Man muss überhaupt nicht Sozialist sein,
um in Vergemeinschaftung ein legitimes politisches Instrument zu sehen. Es gibt
dafür nämlich auch ein liberales Argument.

Dass das überraschend klingt, liegt am hierzulande sehr verengten Verständnis
von “Liberalismus”, der damit nur eine Spielart, den Wirtschaftsliberalismus
bezeichnet. Seine Grundlagen sind das Recht des freien Arbeitsvertrags,
ökonomische Handlungsfreiheit und eine Auffassung persönlicher Initiative, die
in jedem Einzelnen einen potenziellen Unternehmer sieht. Das Problem ist nur,
dass es “den” Liberalismus überhaupt nicht gibt. Dazu ist seine Geschichte zu
verworren, seine Anhängerhaft zu divers, sind seine möglichen Prinzipien zu
gegensätzlich.

Niemand hat das besser beschrieben als die politische
Philosophin Judith N. Shklar,
die bis zu ihrem Tod 1992 in Harvard lehrte. In Shklars ideengeschichtlichen
Studien wird die ganze Komplexität des Liberalismus als einer “Tradition von
Traditionen” sichtbar. Für seine vielfältigen Spielarten macht es den größten
Unterschied, welchem Grundprinzip sie folgen, welche Rolle sie dem Staat
zuweisen und welchen Status Privateigentum in ihnen hat.

Für den Wirtschaftsliberalismus – Shklar nennt ihn den “Liberalismus der
Herrschaft des Gesetzes” – soll der Staat allein die Rahmenbedingungen für die
“spontane Ordnung” des freien Marktes schaffen, wie Friedrich von Hayek es
formulierte. Das meint vor allem ökonomischen Rechtsschutz und allenfalls noch
die gröbste Infrastruktur – sonst hat er sich fein aus dem Leben seiner Bürger
herauszuhalten. Privateigentum ist für diesen Liberalismus geradezu identisch
mit Freiheit. Es ist klar, dass Enteignung hier ein Übel allerhöchster Ordnung
sein muss. Shklar hält von so einem Liberalismus aber wenig. Nicht nur
reduziert er fälschlicherweise Liberalismus auf Kapitalismus, auch ist seine
Idee von Freiheit zu abstrakt und geschichtsblind. Shklar stellt ihm eine ganz
andere historische Linie gegenüber. Sie nennt ihn den “Liberalismus der
Furcht”.

Der Liberalismus der Furcht entstammt nicht der eher friedlichen Zeit des
englischen Frühkapitalismus, sondern den blutigen Religionskriegen des 16.
Jahrhunderts. Dieser Stammbaum macht ihn pessimistischer. Statt eine bestimmte
Form von Freiheit zu postulieren, fragt er, unter welchen Bedingungen Freiheit überhaupt möglich ist. Ist man “frei”, wenn man um sein Leben
bangen muss? Müssen nicht, bevor man wirklich ein freier Teilnehmer des Marktes
sein kann, erst einmal ein paar Grundbedürfnisse gestillt sein? Statt ein
höchstes Gut anzustreben, soll dieser Liberalismus ein höchstes Übel vermeiden.
“Dieses Übel ist die Grausamkeit und die Furcht, die sie hervorruft, und
schließlich die Furcht vor der Furcht selbst.” Die Grundeinheiten dieses
Liberalismus sind daher nicht abstrakte, von vornherein als frei gedachte
Marktteilnehmer, sondern ganz konkret “die Schwachen und die Mächtigen”. Und
die Freiheit, die dieser Liberalismus sichern will, “ist die Freiheit von
Machtmissbrauch und der Einschüchterung Wehrloser”.

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