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Anis-Amri-Untersuchungsausschuss: Der dritte Mann

Als die Polizeibeamten wieder in der kleinen Straße am äußersten Rand von
Berlin vor einem sechsstöckigen Wohnhaus ankommen, sind sie gut vorbereitet. Eine
Spezialeinheit von GSG-9- und SEK-Beamten stürmt am Morgen des 22. August 2018 eine Wohnung im
dritten Stock und nimmt den 31-jährigen russischen Staatsbürger Magomed-Ali C. fest. Die
Ermittler sind sich sicher: Er soll Sprengstoff für ein geplantes Attentat zusammen mit Anis Amri gemischt haben, dessen Anschlag mit einem Lkw kurz vor Weihnachten 2016 auf dem Berliner
Breitscheidplatz offenbar nur ein Ausweichplan war.

Aber die Beamten kommen spät, vielleicht zu spät. Dabei standen Polizisten bereits im Oktober 2016 – also wenige Wochen vor dem verheerenden Anschlag am Breitscheidplatz – vor derselben Tür im dritten Stock im nördlichen Berliner Stadtteil Buch. Das Protokoll des Polizeieinsatzes, das der
ZEIT
vorliegt, umfasst nur ein paar knappe Sätze: C. weist zwei uniformierte Polizisten und einen LKA-Beamten in Zivil an der Wohnungstür ab, was deshalb möglich ist, weil die Beamten keinen Durchsuchungsbefehl haben. Dem LKA-Beamten fallen beim Blick durch die Tür Herrenschuhe in unterschiedlicher Größe auf. Er erinnert sich später an Geräusche, die hinter C. aus der Wohnung gekommen sein sollen.

Was die Beamten damals nicht ahnen: In der Wohnung soll sich zu diesem Zeitpunkt eine gefährliche Menge des hochexplosiven Sprengstoffs TATP befunden haben. Und im hinteren Teil der Wohnung war wohl ein weiterer Mann, den die Behörden heute zu einem Terror-Trio um den Berlin-Attentäter Amri rechnen. Etwa eine Stunde nach dem Polizeibesuch löscht Amri zum ersten Mal seinen Telegram-Messenger, den er speziell für seine sensiblen Nachrichten nutzt. Die Ermittler gehen davon aus, dass die beiden Männer aus Berlin-Buch ihn an diesem Tag gewarnt haben.

Anis-Amri-Untersuchungsausschuss: War Anis Amri gar kein Einzeltäter?

War Anis Amri gar kein Einzeltäter?
© Bundespolizei/laif

Der Verdächtige C. sollte schon 2012 abgeschoben werden – ohne Erfolg

Das Terror-Trio soll damals einen gemeinsamen Anschlagsplan geschmiedet haben, so sieht es der Generalbundesanwalt. Und es soll Teil eines europäischen Terrornetzwerks gewesen sein, dessen Zellen die Anschläge in Brüssel und Paris ausgeführt haben. Wenn am 16. Mai 2019 der Prozess gegen C. am Berliner Kammergericht beginnt, könnte das Verfahren auch aufdecken, dass die Anschlagsserie in den Jahren 2015 und 2016 vom Pariser Stade de France und dem Bataclan-Musikclub über den Brüsseler Flughafen Zaventem bis zum Berliner Weihnachtsmarkt in einem engeren Zusammenhang standen als bisher angenommen. Und es wirft die Frage auf, warum die deutschen Sicherheitsbehörden erst so spät von den mutmaßlichen Hintergründen erfahren haben wollen.

Der Fall von C. zeigt auch, wie schwer es den deutschen Behörden über Jahre hinweg gefallen ist, einen islamistischen Gefährder abzuschieben. 1987 wird C. in einer kleinen Stadt in der russischen Teilrepublik Baschkortostan geboren, sein Vater arbeitet als Schweißer, seine Mutter als Buchhalterin, er ist das fünfte von sechs Kindern. C. schließt die Schule ab, arbeitet in einer Autowaschanlage und in einer Schuhfabrik. Er zieht um in ein kleines Dorf an der Grenze zu Tschetschenien, das radikalislamischen Guerillas bei ihrem Kampf gegen die Moskauer Zentralregierung als Rückzugsort dient. Die russische Teilrepublik liegt am Kaukasus zwischen Georgien und dem Kaspischen Meer. Dort radikalisiert sich C. zunehmend. 2009 heiratet er die Cousine eines Rebellenführers. Auch die russischen Sicherheitsbehörden werden auf ihn aufmerksam, er wird wiederholt verhaftet. C. will deshalb Russland verlassen und reist über die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und schließlich Polen am 23. September 2011 nach Deutschland ein. Vier Tage später stellt er in Berlin seinen Asylantrag.

Seine Vorgeschichte erzählt C. detailliert bei seiner Asylanhörung den Behördenmitarbeitern, er beteuert aber, nie selbst einer Rebellengruppe angehört zu haben. Bereits wenige Wochen später lehnt die Ausländerbehörde seinen Asylantrag ab und ordnet die Abschiebung nach Polen an. Aber die Durchsetzung scheitert. Denn ab Mai 2012 taucht C. unter und ist für die Behörden nicht mehr auffindbar. Etwa ein Jahr später taucht C. wieder auf und meldet ganz offiziell erneut seinen Wohnsitz in Deutschland an. Groteskerweise ist er nun juristisch sicher vor einer Abschiebung nach Polen, weil unterdessen die Frist für die Überstellung abgelaufen ist. Die deutschen Asylbehörden können nur registrieren, dass er im Mai des Jahres 2013 erneut einen Asylantrag stellt.

Dieses Mal hat C. mehr Erfolg. Er erhält erst eine Duldung, dann eine sogenannte Aufenthaltsgestattung. Mit einem Bescheid vom 8. Oktober 2015 stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) für C. ein Abschiebeverbot nach Russland fest, C. drohe dort “eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben und Freiheit”. Aus der Gestattung macht die Behörde eine Aufenthaltserlaubnis, zuletzt mit einer Gültigkeit bis zum 6. Dezember 2019.

Seit dem 23. August 2018 sitzt C. in Berlin nun in Untersuchungshaft, der Generalbundesanwalt wirft ihm die Vorbereitung eines Sprengstoffanschlags in Deutschland vor, mögliches Ziel soll das Berliner Gesundbrunnen-Center gewesen sein, ein Einkaufszentrum mit über 100 Geschäften. Bei einer Verurteilung droht ihm eine mehrjährige Haftstrafe. Das Bamf hat inzwischen Ende September 2018 das Abschiebeverbot für C. widerrufen, die Ausländerbehörde ordnete die Ausweisung an.

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