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Familie: Die Nachbarin hat sich gekümmert

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Und dann bleibt er stehen und betrachtet ein Blatt und erkennt im Fehler
die Schönheit. Die Kinder sagen, naja, ein Blatt. Sie denken an das
1.000-Teile-Puzzle der Hagia Sophia zu Hause, das noch lange nicht fertig ist.
Schon wieder verwechseln sie die Geest mit der Marsch und die Marsch mit der
Geest. Die eine ist flach, die andere ist es nicht. Er wird ungeduldig,
Endmoräne, sagt er, und die Kinder denken an einen Fisch, Schwemmland, sagt er,
und Eiszeit und seht euch doch mal um. Die Kinder trotten in Gummistiefeln über
den Weg, es geht wie immer am Sonntag, auch wenn die Mutter eine alte Schulfreundin
in Süddeutschland besucht, nach dem Internationalen Frühschoppen in den Wald,
der hier Brook heißt. Er sieht Vögel, die fortgeflogen sind, wenn die Kinder
ihre schweren Köpfe in den Regen gehoben haben. Ein Eichelhäher, ein Kiebitz,
eine Bachstelze. Im Wollgras steht ein Weidenröschen. Wir brauchen keinen
Schirm, wir haben Kapuzen. Es ist eine Erlösung, wenn er auf seine Uhr sieht,
die sich, bewegt man sie, selbst aufziehen kann, und darüber nachdenkt, wo er
das Auto geparkt haben könnte.

Auf dem Rückweg wird er beim sonntagsoffenen
Konditor Kuchen kaufen. Mit Schlagsahne, denn ohne sie ist ein Sonntag kein
Sonntag. Er hat wieder Steine gesammelt und sortiert sie zu Hause aufs
Fensterbrett. Eine morsche Baumwurzel erklärt er zum Kunstwerk. Seht sie euch
an. Er ist der Vater, den er selbst nie hatte, weil sein Vater bei der SS war
und im Feld schon bald lungenkrank wurde. Am Nachmittag, wenn der Regen Bäche
aufs Fenster gießt, klebt er Transparentpapier von der Rolle auf den Tisch und
zeichnet mit Zeichenleiste, Dreikantmaßstab und Rapidograph den Aufriss eines
Gebäudes. Das ist sein Beruf. Vors Gebäude zeichnet er zwei Männer, die sich
streiten. Das ist der Spaß an seinem Beruf. Die Kinder dürfen zusehen, wenn er
einen Fehler am Gebäude mit der Rasierklinge vom Papier schabt, aber
mucksmäuschenstill auf Strickstrumpfspitzen, und nicht am Tisch rütteln, sonst verwackelt
der Strich.

Von der Sahne isst er den größten Teil, doch die Kinder bekommen
den Kuchenkanten, den er nicht mag. Wenn er die Beine hochlegt, dürfen sie zu
Fallerbahn und Fischertechnik, zu Fimo, Fang-den-Hut und Fix und Foxi. Zur
Tagesschau müssen sie den Schlafanzug angezogen haben, die Zähne können sie
danach noch putzen. Der Fernseher knistert, als zische eine Kerze in seinem
Inneren, bevor Wilhelm Wieben im schwarz-weißen Grieß erscheint.

Nach dem
Wetterbericht schickt die Tagesschau ein Morsezeichen aufs Meer und er die
Kinder in die Betten. Bevor er schlafen geht, macht er Gymnastik am offenen
Fenster, rollt die Schultern und streckt den Hals, nutzt Damenhanteln, schöpft
Atem für die Nacht. Dann träumt er von Phosphorbomben und verkästen Schrumpfleichen,
vom heißen Sturm, unter dem die Stadt zu rosafarbenem Staub zerfällt, träumt
vom Gerücht, seine Mutter und zwei seiner Brüder lägen tot vorm Haus und
hielten sich noch immer an den Händen. Er träumt vom Delirium, das ihm drei
Tage die Sprache verschlägt, und das ihm am Ende seines Lebens deshalb nicht
fremd sein wird. Zum Frühstück macht er Witze. Doch die Kinder verstehen sie
nicht, sie sind noch halb im Schlaf. Er packt die Aktentasche (Zeichenleiste,
Dreikantmaßstab, Rapidograph) und bricht auf zu einem anderen Leben am
gegenüberliegenden Ende der Stadt. Seid nett in der Schule.

Am Abend rollt er
den Wagen auf die Einfahrt, als atme er aus. Es ist spät geworden, die Kinder
liegen schon in den Betten, die Nachbarin hat sich gekümmert. Langsam wird es
Zeit, dass eure Mutter zurückkommt. Bei der Nachbarin brennt noch Licht. Er
geht in den Garten und ummauert im Schein ihres Lichtes einen Rosenstock mit
Steinen aus dem Brook. Dann verschwindet er. Zum Frühstück macht er heute keine
Witze, sondern schmiert nur stumm die Stullen. Nach der Schule hole ich Mutter
vom Bahnhof ab, wenn ihr wollt, könnt ihr mitkommen. Die Bundesbahn hat
Verspätung und er erklärt ihnen den Verkehrsknotenpunkt Bebra. Als der Zug
endlich einfährt, hebt er die Mutter vom Tritt und küsst sie, bis die Kinder
sich schämen. Im Auto verschenkt sie kleine Puppen aus dem Schwarzwald und
erzählt, dass die alte Schulfreundin schon zu Mittag drei Gläser Bier trinkt.
An einer roten Ampel lachen sie.

Zu Hause macht er ein Foto von seiner Familie
und lässt es so aussehen, wie es aussehen muss. Er wird die Aufnahme später ins
Album kleben, zwischen Spinnenblättern auf grünen Karton, ins Archiv seines
Lebens. An dessen Ende blättert er darin, verblüfft, dass dies nun angeblich
schon alles gewesen sein soll. Es fehlt eine Reise nach Alaska, es fehlt der
Bau einer Kirche, es fehlt ein drittes Kind. Es fehlt ein Pflaumenbaum im
Garten, der weit übers Dach reicht, und es fehlt ein Foto von der Nachbarin im
Album. Seit dreißig Jahren ist sie seine Freundin. Sie verrät es den Kindern am
Tag seines Todes. Zwei Tage zuvor, als er noch glaubt, dass das Altern
aufzuhalten sei, solange nur die Knie mitmachen, ruft er nach ihr. Es ist ein
Ruf in höchster Not und er wird sein letztes Wort sein.

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