/“Europe Talks”: “Meine erste Reaktion war: Oh, oh, ein Brite”

“Europe Talks”: “Meine erste Reaktion war: Oh, oh, ein Brite”

Würden Sie Ihren nationalen Pass gegen einen europäischen tauschen? Das ist eine von sieben Fragen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Europe Talks beantworten mussten. Anhand ihrer Antworten stellte ein Algorithmus je zwei Europäer einander vor, die möglichst unterschiedlicher Meinung sind. Knapp 6.000 Gesprächspaare haben sich in ganz Europa am Samstag getroffen. Zehn von ihnen haben wir in Brüssel vor die Kamera gebeten.

Geoff Renyard 🇬🇧 & Willem Noë 🇳🇱, Differenz: 2

Geoff Renyard, 62, ist Brite, wird also wahrscheinlich nicht mehr lange EU-Bürger sein. Der Niederländer Willem Noë, 60, arbeitet für die Europäische Kommission. Als Willem erfuhr, wer sein Partner ist, hatte er erst ein bisschen Angst. (Die Differenz oben gibt an, auf wie viele Fragen, die Partner unterschiedlich geantwortet haben.)

Europa Spricht: "Meine erste Reaktion war: Oh oh, ein Brite"

“Meine erste Reaktion war: Oh, oh, ein Brite.”
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Willem: Meine erste Reaktion war: Oh, oh, ein Brite, hoffentlich ist er kein Hardcore-Brexiteer. Ich war besorgt, dass ich mit jemandem gematcht wurde, der total gegen das ist, wofür die EU steht. Als Geoff mir sagte, dass er für remain gestimmt hatte, war ich positiv überrascht. Ich hatte schon fast ein Vorurteil entwickelt: Wenn man aus Großbritannien kommt, will man nicht in der EU sein. Es ist wirklich gut zu sehen, dass es Briten gibt, die anders denken.

Geoff: Ich habe mich gefreut, dass ich mit jemandem gematcht wurde, der im Herzen des europäischen Projekts arbeitet. In einer Mail habe ich ihm dann geschrieben, dass ich sehr traurig bin, dass die Mehrheit meiner Mitbürger die EU anders sieht als ich. Ich habe schon 1975 für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Gemeinschaft gestimmt. Die EU wird inzwischen als zu selbstverständlich angesehen, sie ist Teil der Einrichtung, wie ein Möbelstück. Dabei ist sie noch unsicher, weil sie noch so jung ist.

Alessandro Romolo 🇮🇹 & Balma Heras Perea 🇪🇸, Differenz: 4

Alessandro Romolo, 30, kommt aus Italien, hat in Spanien gelebt und ist vor Kurzem nach Frankreich gezogen. Balma Heras Perea, 23, arbeitet für ein europäisches Stadtentwicklungsprojekt in Barcelona. Vor ihrem Treffen sagte Balma zu Alessandro: “Es tut mir leid, dass ich andere Meinungen habe, ich will dich nicht wütend machen.”

Wenn man unterschiedliche Meinungen hat, fühlen sich Menschen manchmal angegriffen.

Balma Heras Perea

Europa Spricht: Europa Spricht Diskussion Teilnehmer Alessandro Balma

“Europe Talks”-Dis­kus­si­ons­teil­neh­mer Alessandro Balma
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Wenn man über Politik spricht, spricht man über seine inneren Überzeugungen.

Alessandro Romolo

Joanna Popiołek 🇵🇱 & Christof Gernhardt 🇩🇪, Differenz: 6

Joanna Popiołek, 47, kommt mit Rucksack zum Gespräch, sie ist um drei Uhr morgens in Danzig aufgestanden. Christof Gernhardt, 34, ist in Ost-Berlin geboren und war schon zwei Mal in Danzig. Die beiden sind sich unter anderem uneinig in der Frage: Sollte die EU engere Beziehungen zu Russland haben?

Europa Spricht: Europa Spricht Diskussion Teilnehmer Joanna Christof

“Europe Talks”-Dis­kus­si­ons­teil­neh­merin Joanna Christof
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Joanna: Wir müssen die normalen Russen von der russischen Politik trennen. Ich liebe Russland, ich liebe die Leute, aber ich hasse die Politik.

Christof: Als Deutscher verstehe ich natürlich, dass Polen sehr sensibel ist, wenn es um Russland und natürlich auch Deutschland geht. Ich denke aber: Wir müssen als Europäer zusammenwachsen und einen gemeinsamen Standpunkt gegenüber Russland finden. Nicht so wie mit der Nordstream-II-Pipeline gerade …

Joanna: … genau! Die Pipeline läuft um Polen herum!

Christof: Das ist kein europäisches Denken. Deutschland denkt hier an sich und seine Energiesicherheit. Das sollten wir nicht machen. Wir denken immer noch: Wir sind der Westen, wir sind Europa – und die Osteuropäer sind die Neuen. Das geht nicht. Wir müssen einen gemeinsamen Standpunkt entwickeln.

Joanna: Das verstehen wir schon. Wir respektieren unsere Nachbarn, wir machen Deutschland oder Russland keine Vorwürfe mehr. Aber ich erinnere mich noch daran, was es heißt, im Kommunismus zu leben. Ich habe es gehasst, als ich anstehen musste, um Orangen zu kaufen, nicht wusste, was Süßigkeiten sind. Ich will nicht dorthin zurück. Ich war in Russland, wo die Fassaden schön sind und nichts dahinter.

Christof: Wie heißt das noch mal? Potemkinsche Dörfer.

Joanna: Ja, ich war in St. Petersburg, Putins Heimatstadt. Dort ist es schön, auf den ersten Blick. Und dann kommt das Mittelalter.

Christof: Würdest du engere Beziehungen zu Russland haben wollen, wenn wir als Europa einen gemeinsamen Standpunkt entwickeln?

Joanna: Der Punkt ist, dass die Hebel der Macht unterschiedlich lang sind. Ich vertraue meiner Regierung nicht, dass wir nicht wieder dahin zurückfallen, wo wir früher waren.

Juhani Tanayama 🇫🇮 & Yavor Ivanov 🇧🇬, Differenz: 6

Juhani Tanayama, 48, kommt aus Finnland, das mehr Geld an die EU zahlt, als es von ihr bekommt. Yavor Ivanov, 29, lebt in einem der ärmsten Länder der EU: Bulgarien. Wie stehen sie zur Frage, ob reichere Länder ärmere unterstützen sollen?

Europa Spricht: Europa Spricht Diskussion Teilnehmer Juhani Yavor

“Europe Talks”-Dis­kus­si­ons­teil­neh­mer Juhani Yavor
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Juhani: Ich denke, es ist sehr wichtig, dass die EU Geld in Bildung investiert, in Infrastruktur, in alles, was notwendig ist, um gute Geschäfte zu machen. Aber das sollte nicht bedingungslos sein. Wenn sich die Regierungen der jeweiligen Länder nicht an europäische Prinzipien und Werte halten oder wenn sie EU-Mittel missbrauchen, muss es Konsequenzen geben. EU-Förderung sollte kein Blankoscheck sein.

Yavor: Ich bin eigentlich dafür, dass die EU arme Länder unterstützt. Aber mit den Fördermitteln ist die Korruption hier in Bulgarien gestiegen. Ja, bei uns wird mit EU-Geld Infrastruktur gebaut, aber die Qualität ist nicht gut, weil sagen wir die Hälfte des Geldes nicht beim Projekt ankommt, sondern in die Taschen einiger Oligarchen fließt. Wenn man die Ärmsten unterstützt, wenn sie wachsen, dann wächst der ganze EU-Markt mit. Aber es sollte nicht so sein, dass die EU einfach eine bestimmte Menge Geld gibt und sich dann nicht mehr interessiert.

Alli Palojärvi 🇫🇮 & Modris Matisāns 🇱🇻, Differenz: 6

Modris Matisans, 34, ist schon um die Welt gesegelt. Auf die Frage, ob er seinen lettischen Pass gegen einen europäischen abgeben würde, sagt er: Ja. Alli Palojärvi, 24, ist in Lappland aufgewachsen und hat in Asien studiert. Sie sagt: Ich will meinen Pass behalten. Was unterscheidet die beiden?

Solange die EU funktioniert und meine Identität schützt, bin ich für einen EU-Pass.

Modris Matisāns

Europa Spricht:


© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Der finnische Pass ist einer der mächtigsten auf der Welt, ich kann fast überallhin ohne Visum reisen. Ich weiß, das ist eine sehr egoistische Antwort, aber ich will das nicht verlieren. Aber wenn ich gezwungen würde, würde ich es wohl akzeptieren.

Alli Palojärvi

Sanni Rautanen 🇫🇮 & Andrea Tamagnini 🇮🇹, Differenz: 2

Sollen die Staaten der EU Benzin höher besteuern, um das Klima zu schützen? Sanni Rautanen, 28, ist aus Finnland, fährt selbst Auto und sagt: Ja. Andrea Tamagnini, 66, ist Italiener und sagt: Nein. Warum?

Europa Spricht: Europa Spricht Diskussion Teilnehmer Sanni Andrea Split

“Europe Talks”-Dis­kus­si­ons­teil­neh­mer Sanni Andrea Split
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Andrea: Benzin wird in Italien schon immer hoch besteuert, es ist also ohnehin sehr teuer. Als ich die Frage sah, dachte ich: Oh nein, nicht noch eine Steuer auf Benzin!

Sanni: Steuern sind ein einfacher Weg, um eine umweltfreundlichere Zukunft herbeizuführen. Wenn du das als Italiener nicht so gut findet, verstehe ich das, aber ich würde sagen: Dann macht es eben in kleinen Schritten.

Andrea: Steuern zahlen, um die Umwelt zu schützen, finde ich gut. Und es stimmt schon, wahrscheinlich sollte es eine Steuer auf Benzin sein, denn Autofahren verursacht Umweltprobleme. Ich bin bereit, meine Meinung zu ändern. Aber dann muss Italien seine Kraftstoffpolitik überarbeiten.

Mieke Everaert 🇧🇪 & Reiner Siebert 🇩🇪, Differenz: 7

Mieke Everaert ist 61, Reiner Siebert 58. Mieke war Lehrerin, Reiner lehrt noch immer – er arbeitet viel mit Flüchtlingen. Sie sagt: Es gibt zu viele Migranten in der EU. Wie sieht er das?

Europa Spricht: Europa Spricht Diskussion Teilnehmer Mieke Reiner

“Europe Talks”-Dis­kus­si­ons­teil­neh­mer Mieke Reiner
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Reiner: Ich verstehe, dass sich Menschen überfordert fühlen von vielen Problemen, die zur gleichen Zeit ankommen. Aber das ist eine politische Frage. Wir können das nicht den Geflüchteten vorwerfen, die sich nach einem besseren Leben sehnen.

Mieke: Die Menschen selbst sind kein Problem, aber die ganzen Dinge um sie herum. Viele sind illegal hier. Hier in Brüssel leben sie zum Beispiel im Nordbahnhof, die Busse wollen da nicht mehr anhalten. Und niemand tut etwas dagegen.

Reiner: Da stimme ich zu, es gibt viele Schwierigkeiten. Aber die sind nur so schlimm, weil es keine richtigen Antworten gibt. Politiker tun so, als könnten wir das Problem lösen, wenn wir die europäischen Grenzen schließen, sodass niemand mehr reinkommt. Das ist eine Illusion. Wir leben in einer vernetzten Welt, wir können die Grenzen nicht zumachen.

Mieke: Aber ich habe gelesen, dass EU-Länder ihre Grenzen schließen können für eine gewisse Zeit.

Reiner: Vielleicht für einen Tag, aber nicht für immer. Wir müssen mit dem Problem umgehen. Wenn Menschen in Bahnhöfen schlafen, dann müssen Politiker eine Lösung finden, wie man sie in Unterkünfte bringt.

Mieke: Ja, wir müssen das Problem lösen. Aber wie? Ich kann es nicht lösen und die Politiker wollen es nicht lösen, weder hier in Belgien noch in vielen anderen Ländern.

Reiner: Vielleicht können wir uns auf etwas einigen, das wir dann unseren Politikern vorschlagen.

Peter Auwerx 🇧🇪 & Peter Fitzsimons 🇮🇪, Differenz: 6

Peter Auwerx, 58, ist Belgier, lebt aber in Großbritannien. Peter Fitzsimmons, 42, ist Ire. Uneinig sind sie sich unter anderem darin, ob sie ihren nationalen Pass für einen europäischen aufgeben würden – der belgische Peter sagt Nein, der irische Ja. Warum?

Europa Spricht: Europa Spricht Diskussion Teilnehmer Peter Peter

“Europe Talks”-Dis­kus­si­ons­teil­neh­mer Peter Peter
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Peter Auwerx: Die EU wird zu einem Superstaat, der alle einzelnen Länder ersetzt. Ich bin Belgier, aber in Zukunft werden alle nur noch Europäer sein. Wie in den USA: Dort gab es früher Texaner, Kalifornier. Heute sind sie alle Amerikaner. Ich bin aber stolz darauf, Belgier zu sein. Wenn die EU mehr eine Föderation von Staaten wäre, wäre es besser.

Peter Fitzsimmons: Ich bin sehr für die EU – sie hat uns Frieden und Wohlstand gebracht. Ich glaube, meine Familie, meine Kinder haben eine bessere Zukunft in der Union. Ich mache mir keine Sorgen um meine irische Identität. Ich bin stolz, mich Europäer zu nennen.

Edoardo Passeggi 🇮🇹 & Michael Deyaert 🇧🇪, Differenz: 5

Edoardo Passeggi, 34, ist Italiener und hat schon in Paris und London gelebt. Michael Deyaert, 52, ist in Belgien geboren, wohnt in Frankreich und hat auch die französische Staatsbürgerschaft. Er ist selbst Migrant – trotzdem findet er, dass es in Europa zu viele Migranten gibt. Edoardo fragt sich: Wie kann das sein?

Europa Spricht: Europa Spricht Diskussion Teilnehmer Michael

“Europe Talks”-Dis­kus­si­ons­teil­neh­mer Michael
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Michael: Wenn man eine persönliche Beziehung zu jemandem hat, der geflohen ist, ist es natürlich sehr schwer zu sagen: Du musst gehen. Das ist unmenschlich. Aber ich denke auch, dass wir nicht jedem den Lebensstandard geben können, für den wir in unserer Gesellschaft gearbeitet haben. Wir müssen offen sein für die Menschen, aber wir können nicht das gesamte Problem lösen. Ich denke, viele sind neidisch auf unser Sozialsystem und unser Gesundheitssystem. Wir sollten uns auch damit beschäftigen, wie wir das Leben dort verbessern können, wo diese Menschen herkommen, damit sie nicht kommen müssen.

Europa Spricht:


© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Edoardo: Ich frage mich immer: Was heißt denn zu viele? Es stimmt, dass wir nicht jeden aufnehmen können. Aber die Angst, die wir vor Menschen haben, die aus Afrika mit dem Boot kommen, ist irrational: Ein Großteil der Menschen, die nach Europa einwandern, kommt aus osteuropäischen Ländern. Sie kommen mit dem Auto oder mit dem Zug. Menschen im Mittelmeer sterben zu lassen, weil wir die Grenze schließen wollen, ergibt keinen Sinn.

Vassilis Rizos 🇬🇷 & Dario Fritschi 🇩🇪, Differenz: 1

Vassilis Rizos, 57, kommt aus Griechenland. Für ihn ist das Gespräch mit seinem Partner Dario Fritschi, 22, aus Deutschland eine Möglichkeit, um einige Missverständnisse über seine Heimat auszuräumen.

Europa Spricht: Europa Spricht Diskussion Teilnehmer Vasily Dario Doppel

“Europe Talks”-Dis­kus­si­ons­teil­neh­mer Vasily Dario Doppel
© Meiko Herrmann für ZEIT ONLINE

Dario: Mein Bild von Griechenland ist geprägt von der Finanzkrise, alles andere wäre gelogen. Ich würde gern mal hören, wie ein Grieche die Krise erlebt hat.

Vassilis: Es war keine Finanzkrise, es war eine Kulturkrise: Das politische System in Griechenland ist geprägt von Klientelismus und schwachen Institutionen. Wir haben den Euro eingeführt – eine starke Währung – ohne starke öffentliche Institutionen zu haben. Hier hat uns die EU geholfen. Deshalb glaube ich auch, dass wir von der EU profitiert haben. Sie hat uns geholfen, Dinge zu organisieren, die wir nicht gut organisiert haben.

Text: Sophia Schirmer, Hannes Schrader

Redigatur: Till Schwarze
Fotografie: Meiko Herrmann, Assistenz: Sascha Defohrt
Bildredaktion: Michael Pfister, Andreas Prost, Norbert Bayer
Make-up-Artist: Nadine Thoma
Gestaltung und technische Umsetzung: Christoph Rauscher,
Julian Stahnke, Julius Tröger

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