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Frans Timmermanns: Links und unverzagt

Frans Timmermans steigt in Warschau aus der U-Bahn, eine Rolltreppe
befördert ihn hinauf auf die Ulica Nowy Świat, einen Boulevard im Stadtzentrum. Plötzlich
umringen ihn zwei Dutzend Jugendliche mit Europafahnen. Wie ein Trupp Cheerleader begleiten
sie ihn fahnenschwenkend auf seinem kurzen Rundgang durch die Stadt. Vor einem Café, in dem
Timmermans Platz nimmt, bilden die Jugendlichen ein Spalier; von dort geht es weiter zu einer
Gedenktafel, die an eine verstorbene Sozialdemokratin und Feministin erinnert. Ist das noch
Wahlkampf oder schon Satire? Der Jubeltrupp ist offensichtlich von Unterstützern organisiert.
Ratlos schauen die Passanten dem Kandidaten und seinen Cheerleadern hinterher.

Frans Timmermans, 58 Jahre alt, ist bislang Stellvertreter von Jean-Claude Juncker, nun will er selbst Präsident der EU-Kommission werden. Bei der bevorstehenden Europawahl tritt der Niederländer als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten an. Den Wahlkampf eines solchen Spitzenkandidaten muss man sich wie eine Partie Simultanschach vorstellen – ein Spiel in 28 Ländern. Timmermans hat hierbei zwei große Vorteile. Er beherrscht sieben Sprachen, und er kann über Europa so eindringlich und anschaulich sprechen wie kaum ein Zweiter. Aber Timmermans hat auch einen gravierenden Nachteil: Er ist Sozialdemokrat.

Warschau, Anfang April

Immerhin gehört er zu den wenigen Brüsseler Politikern, die auch außerhalb von Brüssel erkannt werden, zumal in Polen. Als Vizepräsident der EU-Kommission zeichnete er in den vergangenen Jahren für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit verantwortlich. Gegen Polen führt die Kommission ein Rechtsstaatsverfahren, sie wirft der nationalkonservativen Regierung in Warschau vor, die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben. Für die Anhänger der Regierung ist Timmermans deshalb eine ständige Provokation, sie sehen ihn als Ausgeburt einer anmaßenden Brüsseler Bürokratie, die die Unabhängigkeit ihres Landes missachtet. Vor dem Palladium, einem Theater, in dem Timmermans nach seinem Stadtrundgang auftritt, haben sie eine Plakatwand mit einem Bild von ihm geparkt. “Sie denken, sie seien Europa”, steht in großen Lettern darauf: “Es ist Zeit, sie zu stoppen!” Sie – das sind Timmermans und die Brüsseler Bürokraten.

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© Foto: Zeit Online

Für die polnische Opposition hingegen ist Timmermans ein Hoffnungsträger. Im Palladium feiern ihn die Zuschauer als aufrechten Kämpfer für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Timmermans entgegnet ihre Sympathie und versichert: “Niemals kann ich mir eine EU ohne Polen vorstellen.” Doch um bei der Europawahl erfolgreich zu sein, ist er darauf angewiesen, dass auch die sozialdemokratischen Parteien in Europa Erfolg haben. Im Europäischen Parlament haben sie derzeit ein Viertel der 751 Sitze inne. Laut Umfragen könnten sie bis zu 50 Sitze verlieren. In Polen sind die Sozialdemokraten derzeit nicht einmal im Parlament vertreten.

Timmermans tritt in Warschau deshalb gemeinsam mit Robert Biedroń auf. Der frühere Bürgermeister von Słupsk hat eine neue Partei gegründet, sie gilt als progressiv und links. Biedroń selbst ist ein ziemlich aufgedrehter Typ. Auf der Bühne des Palladiums hüpft er herum wie ein Showmaster auf Koks, schwungvoll entledigt er sich seines Sakkos, giggelnd tänzelt er durch die Reihen der Zuschauer. Timmermans weiß nicht so recht, wie ihm geschieht, doch ihm bleibt gar nichts anderes übrig, als die seltsame Show mitzumachen. Biedroń will ihn unterstützen, seine Partei könnte sich nach der Europawahl den europäischen Sozialdemokraten anschließen. Und Timmermans braucht jede Stimme.

Madrid, Ende Februar

Der Kandidat, der den Sozialdemokraten neuen Schwung geben soll, ist in den vergangenen Monaten besonders gern nach Spanien gereist. Die Sozialdemokraten heißen hier Sozialisten, ihre Welt scheint auf der Iberischen Halbinsel noch in Ordnung zu sein. In Spanien haben sie gerade die Parlamentswahl gewonnen; in Portugal regieren sie seit 2015 und stehen in den Umfragen noch immer bei annähernd 40 Prozent. Jenseits der Pyrenäen sucht Timmermans deshalb das, was er für seine Kampagne mehr braucht als alles andere: Hoffnung und Zuversicht.

Im prächtigen Teatro Coliseum schmettern die Zuschauerinnen und Zuschauer mit fröhlicher Inbrunst
Bella ciao,
das Lied der italienischen Partisanen. Zwei Tage lang trifft sich die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) in der spanischen Hauptstadt, um den Wahlkampf einzuläuten und ihren Spitzenkandidaten zu küren. Timmermans, wie so oft im Wahlkampf in Jeans, beginnt seine Rede auf Spanisch und macht, was er meistens macht, wenn er vor Publikum spricht, er erzählt eine Geschichte.

Diese Geschichte handelt von Frieda Menco. In Kindertagen war sie eine Freundin von Anne Frank gewesen, und obwohl sie selbst Jüdin war, hatte sie die Schoah überlebt. Nun ist sie in Amsterdam gestorben, mit 93. Es schmerze ihn, sagt Timmermans auf der Bühne in Madrid, dass die alte Dame in ihren letzten Jahren habe mitansehen müssen, wie der Antisemitismus in Europa wieder gewachsen sei. Und er verspricht ihr gleichsam posthum, gegen jede Form von Antisemitismus zu kämpfen. Denn: “Wenn unsere jüdischen Schwestern und Brüder sich in Europa nicht sicher fühlen, gibt es kein Europa.”

Die Zuhörer sind ergriffen, Timmermans kann das: über Werte sprechen und Emotionen wecken, ohne peinlich zu werden. Im Sommer 2014, damals war er noch niederländischer Außenminister, sprach er, selbst erkennbar bewegt, nach dem Abschuss des Linienflugs MH17 über der Ostukraine im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Fast 300 Menschen waren gestorben, die meisten von ihnen Niederländer. Seine Rede dauerte nur sechseinhalb Minuten, aber die Zeitungen schrieben anschließend, Timmermans habe “die Welt zum Weinen gebracht”. Jetzt, im Wahlkampf, steht er vor einer ungleich schwierigeren Aufgabe: Er will seine Zuhörer zum Träumen bringen.

“Angst ist die vielleicht größte Triebkraft der Politik geworden”, hat Timmermans vor Jahren in einem Essay geschrieben. Nichts sei daher für einen Politiker verlockender, als die Angst zu instrumentalisieren. Er selbst will es andersherum versuchen, er möchte der Angst und den Angstmachern Optimismus entgegensetzen. “Lasst unsere Kinder wieder träumen”, ruft Timmermans in Madrid. Von Spanien und Portugal, sagt er später im Gespräch, könne man lernen, was eine solidarische Gesellschaft ausmache: “Eine Gesellschaft, in der jeder mitmischt. In der niemand diskriminiert wird. In der Frauen und Männer dieselben Rechte haben.” Dieses Bild würde er gern auf ganz Europa übertragen.

Emotionen, Optimismus und etwas Pathos – das ist der erste Teil der Antwort, die Timmermans auf die gegenwärtigen Herausforderungen der europäischen Politik gibt. Und auf die Krise seiner eigenen Partei.

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